Stockholm. 100 Jahre lang waren die Sozialdemokraten die stärkste Partei in Schweden. Das könnte sich heute bei den Parlamentswahlen ändern.

Schweden galt dem Rest der Welt lange als tolerantes, sozial ausgewogenes Bullerbü. Im Gegensatz zu den Nachbarländern Finnland, Norwegen und Dänemark, wo Rechtspopulisten schon längst mitbestimmen, konnten sie sich in Schweden lange Zeit nicht dauerhaft etablieren.

Das hat Jimmie Åkesson, seit 2005 Chef der 1988 von Neonazis mitbegründeten Rechtsaußenpartei Schwedendemokraten (SD) geändert. Er gibt sich gemäßigt. Offen rechtsradikale SD-Mitglieder mussten die Partei verlassen. Die SD möchte mitregieren.

Bei den Wahlen vor acht Jahren kam die SD mit knapp sechs Prozent erstmals über die Vierprozenthürde, 2014 verdoppelte sie ihren Stimmenanteil auf knapp 13 Prozent. Bei den Parlamentswahlen am heutigen Sonntag könnte die SD laut Umfragen mit rund 20 Prozent erstmals größer als die größte bürgerliche Oppositionspartei Moderaterna von Regierungschefanwärter Ulf Kristersson werden.

Zudem liegt die SD nur wenige Prozentpunkte von Ministerpräsident Stefan Löfvens Sozialdemokraten entfernt. Einige Umfragen sehen sie sogar vor ihnen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Åkessons SD die Sozialdemokraten, die einst den schwedischen Wohlfahrtsstaat aufbauten, erstmals seit 100 Jahren als stärkste Partei im Lande ablösen könnte, meint Mats Knutson, Chefkommentator beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT. Sicher ist: „Schweden steht vor einer umwälzenden Veränderung seiner politischen Landschaft.“

Politikprofessor: Probleme durch Migration lange Tabuthema

In Schweden wird am heutigen Sonntag gewählt.
In Schweden wird am heutigen Sonntag gewählt. © REUTERS | INTS KALNINS

Im Mutterland der Sozialdemokratie hat die Flüchtlingskrise die Rechtspopulisten stark gemacht. Seit Monaten nähern sich die aus der radikalen Szene gewachsenen Schwedendemokraten und die Sozialdemokraten gegenseitig an – die einen gewinnen stetig, die anderen verlieren stetig.

Nicholas Aylott, Politikprofessor an der Stockholmer Hochschule Södertörn, glaubt, dass der Mäßigungskurs, den Jimmie Åkesson seinen Schwedendemokraten verordnet hat, verfängt. Und die Themen, die er gesetzt hat.

„Schweden hatte in den vergangenen 15 Jahren eine großzügige Einwanderungspolitik, viel großzügiger im Vergleich zu allen anderen Ländern in Europa. Das beunruhigt viele Schweden“, sagt Aylott. Heute sind 18 Prozent der Bürger Schwedens im Ausland geboren, wenn man Bürger mit ausländischen Eltern hinzuzählt, sind es 24 Prozent. „Für ein Land, dass historisch gesehen sehr homogen war, ist das eine große Veränderung“, sagt der Politikprofessor. Dass durch die Migration Probleme entstehen, sei lange ein Tabuthema gewesen: „Lange hat nur die SD das thematisiert.“

Wohlfahrtsstaat wurde in Schweden eingedampft

Am Rande der schwedischen Großstädte sind geschlossene Migrantenwohnviertel entstanden mit teils hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate. Immer wieder geraten sie durch Krawalle und Bandenschießereien in die Schlagzeilen. Gleichzeitig bauten sozialdemokratische und bürgerliche Regierungen seit den 90er Jahren den Wohlfahrtsstaat zurück, der zuvor als der engmaschigste der Welt galt.

„Eine zuvor den Menschen unbekannte soziale Unsicherheit ist in Schweden eingezogen, gerade auch in den unteren und mittleren sozialen Schichten“, sagt Daniel Suhonen, Chef der gewerkschaftlichen Denkfabrik „Katalys“: „Das härtere soziale Klima konnte die SD dann erfolgreich mit der Einwanderung verbinden, obwohl es nichts damit zu tun hat.“

Mehr Flüchtlinge pro Kopf als jedes andere EU-Land aufgenommen

Im Jahr der großen Flüchtlingskrise 2015 nahm Schweden mehr als 160.000 Menschen auf. In Relation zu seinen zehn Millionen Einwohnern hat Schweden mehr Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen als jedes andere europäische Land. Die Kommunen waren überfordert. Erst Ende 2015 kündigte die rotgrüne Regierung die Schließung der Grenzen und deutliche Verschärfungen der generösen Asylrichtlinien an. „Das kam viel zu spät. Die SD konnte sich bis dahin als einzige einwanderungskritische Partei im Parlament etablieren“, sagt Aylott.

Seit der Kehrtwende der Regierung und den guten Umfragewerten der SD hat sich auch die politische Debatte stark nach rechts verlagert. Einwanderung und die verstärkte Bekämpfung von Kriminalität rückten auch in den großen etablierten Parteien so wie in Deutschland ins Zentrum der Debatte. Man zahle nun den Preis für 20 Jahre erfolgloser Integrationspolitik, sagte der Chef der bürgerlichen Moderaterna Ulf Kristersson. 2014 wäre eine solche Äußerung aus seiner Partei im politisch korrekten Schweden fast undenkbar gewesen.

Unklar bleibt nun vor allem, wie die etablierten Parteien nach der Wahl mit der SD umgehen werden. Eine direkte Regierungsbeteiligung der SD schließen Links- und Rechtsblock aus. Mögliche Koalitionen oder Tolerierungen sind ungeklärt. (mit dpa)