Berlin. Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) meldet sich in die Türkei-Debatte zu Wort – und stichelt jetzt auch gegen die eigene Partei.

Wenn es um die Türkei geht, steigt bei Sigmar Gabriel schnell die politische Temperatur. Die Debatte über den Besuch von Präsident Recep Tayyip Erdogan am 28. September in Berlin sei „fast schon albern“, stichelt er. Es sei richtig, Erdogan mit militärischen Ehren und Staatsbankett zu empfangen, sagt der SPD-Politiker am Dienstag bei einer Buchvorstellung im Haus der Bundespressekonferenz.

Deutschland drohe an seinem „moralischen Rigorismus zu ersticken“, fügt er hinzu. Eine Spitze gegen die Entrüstungs-Rhetorik der Grünen, Linken, aber auch von Teilen der SPD. Sie kritisieren, dass Erdogan von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Staatsgast empfangen wird, während in der Türkei immer noch sieben Deutsche aus politischen Gründen inhaftiert sind.

Gabriel: Wichtige Debatten werden nicht angestoßen

Gabriel sitzt locker auf dem Podium. Der braune Teint vom Schweden-Urlaub lässt ihn entspannt erscheinen. Er trägt ein blaues Sakko mit grauem Polohemd und eine dunkle Jeanshose. Der ehemalige Außenminister und Vizekanzler sieht an dem Tag eher aus wie ein Privatier. Doch der Eindruck täuscht. Gabriel kann sich echauffieren.

So vermisst Gabriel eine Debatte über die großen geostrategischen Fragen: Europas Rolle in der internationalen Politik oder das Verhältnis zu China. Hierüber werde kaum diskutiert, Deutschland sei auf diesem Feld „eher Kreisklasse“.

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    Der Vorwurf richtet sich auch an seine eigene Partei. Gabriel stimmt ein in das Klagelied des früheren SPD-Chefs und Kanzlerkandidaten Martin Schulz, der den Genossen ankreidete, „viel über Europa zu sprechen“, aber „stark innenpolitisch fixiert“ zu sein. Bei den Koalitionsverhandlungen hätten die Ministerpräsidenten den „Bundeshaushalt als Steinbruch für Länderpolitik“ genutzt.

    Gabriel hält das für einen Reflex des deutschen Provinzialismus. Gelegentlich hadert der 58-Jährige mit den Sozialdemokraten. „In der SPD ist es üblich, dass ich an allem schuld bin“, entfährt es ihm einmal. Ein bisschen wehleidig klingt das, mit melancholischem Unterton. In solchen Momenten hat er die Hände gefaltet, die Zeigefinger berühren die Lippen.

    Der Schmerz, dass er von den SPD-Granden Andrea Nahles und Olaf Scholz als Chef-Diplomat im März abserviert wurde, sitzt tief. Dabei hatte sich der Allround-Politiker zuletzt auf dem Chefsessel im Auswärtigen Amt sehr wohl gefühlt. Er konnte scharfzüngig und druckreif formulieren. Er war aber auch imstande, diplomatische Watte auszupacken, um seine Gesprächspartner nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Meinungsumfragen gingen nach oben.

    Auf vielen Bühnen unterwegs

    Gabriel fühlt sich immer noch als politisches Schwergewicht. Kaum eine Woche, an der er sich nicht als Neben-Außenminister im Interview zu Wort meldet. Er sieht sich als der große Deutschland-Stratege in einem schwierigen Umfeld. Im September kommt sein neues Buch auf den Markt, das den nicht gerade bescheidenen Titel trägt: „Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten.“

    Gabriel spielt auf verschiedenen Bühnen. Er schreibt für das Medienhaus Holtzbrinck. Die Denkfabrik International Crisis Group will er beraten und Vorträge halten – unter anderem an der US-Elite-Uni Harvard. 2020 wird er in den Verwaltungsrat des deutsch-französischen Schienenfahrzeug-Herstellers Siemens-Alstom gehen.

    Gabriel mit vielen Weggefährten zerstritten

    Dass der Ex-Frontmann der SPD sich künftig nur noch mit Schnellzügen beschäftigt, darf man getrost abhaken. „Ihr werdet also auch künftig viel von mir hören – und lesen“, teilte er kürzlich auf seiner Homepage mit. Für viele war dies eine Ankündigung, für andere eine Drohung.

    Mit nicht wenigen in der SPD-Spitze hat sich Gabriel tief zerstritten. Aber nicht mit allen. Zu Bundespräsident Steinmeier, Gabriels Amtsvorgänger als Außenminister, hat der Niedersachse noch immer einen guten Draht. Er wird am 21. September die Festrede zur Verleihung der Ehrenbürger-Würde von Gabriels Geburtsstadt Goslar halten. Die Nummer eins im Staat als Laudator – mehr als ein Trostpreis.