Berlin. Eigentlich sollen neue Deutsche ihre alten Pässe abgeben. Doch der Anteil derer, die zwei Nationalitäten haben, steigt. Ein Problem?

Es ist ein Stück Papier, das Türen öffnet: Ein Pass steht stellvertretend für Staatsbürgerschaft, für die Rechte und Pflichten und auch das Dazugehören zu einer Gesellschaft. Für den deutschen Pass entscheiden sich in jedem Jahr Zehntausende Menschen, die schon lange hier sind.

Eigentlich legen sie damit die Nationalität ihres Herkunftslandes ab, so will es das deutsche Gesetz. Doch es gibt Ausnahmen von der Regel. Und Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Immer mehr Menschen behalten ihre erste Staatsbürgerschaft, auch wenn sie Deutsche werden. Behielten 2000 noch 45 Prozent der neu eingebürgerten Deutschen ihren ersten Pass, waren es im vergangenen Jahr schon 61 Prozent.

Wie viele Menschen haben in Deutschland zwei Pässe?

Gesicherte Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland neben der deutschen noch eine andere Staatsbürgerschaft haben, gibt es nicht. Der Zensus 2011 ergab eine Gruppe von rund 4,3 Millionen Menschen mit zwei Pässen. Beim Mikrozensus wurden nur rund 1,9 Millionen solcher Fälle gezählt.

Die Bundeszentrale für politische Bildung geht davon aus, dass sich die echte Zahl eher in Höhe des ersten Wertes bewegt, weil Doppelstaatsbürgerschaften beim Mikrozensus im Zweifel nicht angegeben würden.

Woher kommt der Anstieg der doppelten Staatsangehörigkeiten?

Dass in den vergangenen Jahren so viel mehr neue Deutsche sich nicht von ihrem alten Pass trennen mochten, führt das Innenministerium vor allem auf eine Gruppe zurück: in Deutschland lebende Briten. Die lassen sich nämlich sehr viel häufiger einbürgern, seit klar ist, dass Großbritannien die EU verlassen wird. Allein 2016 und 2017 wurden 10.358 Menschen aus dem Königreich deutsche Bürger – das sind mehr als doppelt so viele wie zwischen 2000 und 2015.

Als EU-Bürger müssen sie dabei ihre britische Staatszugehörigkeit nicht abgeben – und tun es deshalb auch nicht. Der Anteil der eingebürgerten Briten, die beide Pässe haben, lag im vergangenen Jahr bei 100 Prozent. Ebenso hoch war die Quote bei Menschen aus Polen, Rumänien, Griechenland, Kroatien und Bulgarien.

Dazu kommt: Nicht jeder, der Deutscher werden möchte, kann seine alte Staatsbürgerschaft abgeben. Länder wie Iran, Syrien, Afghanistan oder Thailand lassen ein Ablegen der Staatszugehörigkeit nicht oder nur unter sehr großen Hürden zu. Auch in diesen Fällen können Bewerber Deutsche werden, ohne ihre ursprüngliche Staatszugehörigkeit ablegen zu müssen. Insgesamt wurden 2017 rund 70.000 Menschen unter „Hinnahme von Mehrstaatigkeit“ eingebürgert.

Wie wird man Staatsbürger?

Der Weg, Deutscher oder Deutsche zu werden, ist lang: Einen Anspruch auf Einbürgerung haben Ausländer erst, wenn sie seit mindestens acht Jahren legal in Deutschland sind. Wer schneller Staatsbürger werden will, kann einen Integrationskurs besuchen – der verkürzt die Zeit, die man in Deutschland verbracht haben muss, auf sieben Jahre. Bei „besonderen Integrationsleistungen“ können sogar sechs ausreichen.

Wer lang genug hier ist, muss testen lassen, was er oder sie in dieser Zeit über Deutschland gelernt hat: Ein Einbürgerungstest aus 33 Multiple-Choice-Fragen soll prüfen, ob Menschen, die Deutsche werden wollen, mit dem politischen System und gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut sind – zum Beispiel wissen, seit wann man in Deutschland mit Euro zahlen kann und welche Befugnisse das Jugendamt hat.

Das Bekenntnis zur Verfassung, das neue Bürger ablegen.
Das Bekenntnis zur Verfassung, das neue Bürger ablegen. © picture alliance / Matthias Balk | dpa Picture-Alliance / Matthias Balk

Neben dem bestandenen Test müssen Bewerber beweisen, dass sie eigenständig für ihren Lebensunterhalt sorgen können und ausreichend Deutsch sprechen (Niveau B1). Voraussetzung ist außerdem ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Nicht immer müssen alle diese Voraussetzungen erfüllt sein: Behörden haben die Möglichkeit, im Rahmen einer „Ermessenseinbürgerung“ Menschen einzubürgern.

Eine große Gruppe von Doppelstaatlern musste allerdings nichts von dem tun: Sowohl Kinder deutscher Eltern im Ausland als auch Kinder von Elternpaaren mit unterschiedlichen Nationalitäten haben unter Umständen mehr als eine Nationalität. In Deutschland gilt außerdem seit einer Gesetzesänderung 2000 das „Ius soli“, also das Prinzip, dass Kinder, die in Deutschland geboren werden, unter bestimmten Bedingungen Staatsbürger sind.

Kommt mindestens ein Elternteil aus dem Ausland, haben diese Kinder häufig beide Pässe. Bis 2014 sah die Gesetzeslage vor, dass sie spätestens im Alter von 23 Jahren entscheiden müssen, welche der Zugehörigkeiten sie abgeben. Diese sogenannte Optionspflicht wurde jedoch von der damals regierenden Großen Koalition abgeschafft.

Was bedeutet die doppelte Staatsbürgerschaft für die Integration?

Kritiker sehen in der doppelten Staatsbürgerschaft ein Hindernis für Integration, weil sie bei Doppelstaatlern geteilte Loyalitäten vermuten. Vor allem in der Union fremdeln noch immer viele mit der doppelten Staatsbürgerschaft. Das zeigt der Parteitagsbeschluss von 2016, der eine Rückkehr zur Optionspflicht forcieren sollte, es aber nicht ins Wahlprogramm schaffte.

Aus wissenschaftlicher Perspektive lässt sich die These vom zweiten Pass als Integrationshemmnis jedoch nicht stützen, sagt Sozialforscher Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. „Es gibt eine Menge Forschung, die besagt, dass die Staatsangehörigkeit Integration erleichtert“, erklärt Oltmer gegenüber dieser Redaktion.

Für viele Menschen seien die Rechte, die mit der Staatsbürgerschaft einhergehen, ein Grund, Deutscher zu werden. Gleichzeitig entschieden sich viele Migranten bewusst für die Staatsbürgerschaft als Schritt zur Integration. „Das bedeutet ein nicht unerhebliches Zugehörigkeitsgefühl“, sagt Oltmer.

Dass Menschen mit zwei Pässen deswegen in Identitätskonflikte geraten könnten, glaubt der Sozialforscher nicht. „Wir wissen, dass Identitäten immer Mehrfachidentitäten sind“, sagt er. „Die Idee, dass man zum Beispiel nur Deutscher oder nur Türke sein könne, wie wir das in den letzten Wochen immer wieder gehört haben, ist absurd.“

Bürger eines Landes zu sein, sei auch eine Form der Anerkennung dieser Identitäten und werde emotional auch so verstanden, sagt der Forscher. Immer mehr Städte führen deshalb regelmäßig Einbürgerungszeremonien durch, bei denen mit Musik und Reden neue Staatsbürgerschaften gefeiert werden. „Gerade weil Staatsangehörigkeit auch eine sehr emotionale Sache ist“, sagt Oltmer, „kann so was wichtig sein für ein Gefühl der Zugehörigkeit.“