Mexiko-Stadt. Nicaraguas ehemaliger Revolutionär stürzte 1979 den Autokraten Anastasio Somoza. Heute führt der Präsident Krieg gegen das eigene Volk.

Nicaraguas autoritärer Herrscher Daniel Ortega hat sich endgültig gegen Kompromisse mit der Opposition und für Krieg gegen das eigene Volk entschieden. Seit mehr als zwei Wochen geht er mit Gewalt und rücksichtsloser Härte gegen seine Gegner vor, die an verschiedenen Orten des zentralamerikanischen Landes Barrikaden und Straßensperren errichtet haben, um die Regierung herauszufordern.

Ortega hat die Offensive gegen die Opposition „Operación Limpieza“, die „Operation Säuberung“ getauft. Stück für Stück will er so die Orte und Stadtteile zurückerobern, die sich in Händen von Studenten und Widerständlern befinden.

Doppelt so viele Tote wie bei den Unruhen in Venezuela

Nicaragua rutscht drei Monate nach Beginn der Proteste gegen den ehemals linken Präsidenten immer tiefer in einen offenen Bürgerkrieg. Rund 300 Tote sind seit Beginn der Proteste gegen die Regierung am 18. April zu beklagen. Zum Vergleich: Bei den Demonstrationen gegen Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro kamen im gesamten vergangenen Jahr nur halb so viele Menschen um.

Kürzlich sandte Ortega rund 1500 Soldaten, Polizisten und regierungstreue Paramilitärs nach Masaya, 35 Kilometer von der Hauptstadt Managua entfernt. Die Stadt gilt als Hochburg der Opposition. Bei den mehrstündigen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Sicherheitskräften kamen nach Angaben von Menschenrechtlern vier Menschen ums Leben, darunter ein Polizist.

Regierungstreue Medien berichteten, die 100.000 Einwohner zählende Stadt sei „befreit“. Aus unabhängigen Quellen war das zunächst nicht zu bestätigen, da Reporter, die versuchten, nach Masaya zu gelangen, von Paramilitärs beschossen wurden. Offensichtlich aber haben sich viele der zumeist jungen Protestierer angesichts der Übermacht der staatlichen Sicherheitskräfte zurückgezogen. Daraufhin ließ die Regierung die Barrikaden mit schwerem Gerät räumen.

In Managua protestieren die Menschen für die Absetzung von Präsident Ortega.
In Managua protestieren die Menschen für die Absetzung von Präsident Ortega. © REUTERS | JORGE CABRERA

Regierung agiert zunehmend diktatorisch

Rosario Murillo, Ehefrau von Ortega und zugleich Vizepräsidentin, sagt, die Regierung sei dabei, den „Frieden wiederherzustellen“, indem sie Straßensperren und Barrikaden aufheben lasse. Die Proteste folgten einem „terroristischen, umstürzlerischen Plan“, der von einer niederträchtigen Medienkampagne im In- und Ausland begleitet werde. Vilma Núñez, Leiterin des unabhängigen Nicaraguanischen Menschenrechtszen­trums (CENIDH), hält das für eine zynische Verdrehung der Tatsachen.

„Ortega hat seinen Plan der Ausmerzung begonnen“, erklärt sie hingegen. Auch Amnesty International spricht von einem „ungeheuerlichen Niveau staatlicher Repression“. Nach langem Zögern erhöht nun auch die internationale Gemeinschaft den Druck auf die zunehmend diktatorisch agierende Regierung. UN-Generalsekretär António Guterres, 13 lateinamerikanische Staaten und die USA forderten ein sofortiges Ende der Gewalt.

Es sei klar, dass ein Großteil der Gewalt von regierungstreuen, paramilitärischen Gruppen ausgehe. Es war das erste Mal, dass sich der UN-Generalsekretär so deutlich zu den Protesten äußerte. Die Europäische Union verlangte bereits zuvor ein Ende der Auseinandersetzungen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte eine „friedliche und demokratische Lösung im Rahmen eines nationalen Dialogs“.

Menschen wollen Ortega nur noch loswerden

Auslöser der Proteste war eine geplante Reform der Sozialkassen, die Rentner zu einer fünfprozentigen Kürzung ihrer Pensionen genötigt und Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu drastisch erhöhten Abgaben verpflichtet hätte. Kritiker werfen der Regierung vor, die Rentenkassen geplündert und das Geld für fragwürdige Projekte abgezweigt zu haben.

Zwar nahm Ortega die Reform zurück, doch der soziale Protest weitete sich zu einem landesweiten Aufstand gegen den unbeliebten Präsidenten und seine Frau aus, denen die Nicaraguaner korrupte Amtsführung sowie die Errichtung einer Familiendynastie vorwerfen. Inzwischen wollen die Menschen die Familie Ortega nur noch loswerden.

In einem mittlerweile suspendierten Dialog unter Vermittlung der katholischen Kirche und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sollte sich der Präsident auf vorgezogene Wahlen einlassen, was er aber kategorisch ablehnt. Er will bis zum Ende seiner Amtszeit bis 2021 weiterregieren. „Die Regeln setzt das Volk durch die Verfassung, sie können nicht einfach von einer Handvoll Putschisten über Nacht geändert werden“, betont Ortega.

Viele Menschen in Nicaragua sind von der politischen Kehrtwende Daniel Ortegas enttäuscht.
Viele Menschen in Nicaragua sind von der politischen Kehrtwende Daniel Ortegas enttäuscht. © REUTERS | OSWALDO RIVAS

Ehefrau soll Nachfolgerin werden

In seiner zweiten Amtszeit regiert Ortega eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. Kritiker werfen ihm vor, sich politisch um 180 Grad gedreht zu haben. 1978 kämpfte der gerade etwas über 30 Jahre alte Mann gemeinsam mit Dichtern und Denkern, Sängern, Malern und anderen Revolutionären für Demokratie, Freiheitsrechte und gegen den Diktator Anastasio Somoza.

Und als sie und ihre Sandinistische Befreiungsfront am 19. Juli 1979 obsiegten und Nicaragua frei war, da überschüttete die Welt das kleine Land in Mittelamerika mit Sympathie und Solidaritätsbekundungen.

Heute gleicht sich Ortega immer mehr dem brutalen Autokraten an, den er einst zu vertreiben half. Nur dass der Sandinist seine Familiendynastie moderner und breiter aufgestellt hat. Seine Frau Rosario Murillo ist seit vergangenem Jahr Vizepräsidentin und soll den kränkelnden Präsidenten einmal an der Macht ablösen.

Gegner wurden politisch kalt gestellt

Die Geschäfte hinter den Kulissen führt die 67-Jährige ohnehin schon lange. Zudem haben alle neun Kinder Ortegas und Murillos wichtige Positionen inne, kontrollieren fast alle Fernseh- und Radiosender des Landes, fungieren als Präsidentenberater und Minister. Familienmitglieder des Staatschefs gehören Hotels, Werbeunternehmen, Blumenläden. Ein Sohn und dessen Frau kontrollieren das Benzingeschäft und die Spritabgabe über die staatlichen Tankstellen.

Der Sandinist Ortega regierte Nicaragua schon einmal von 1984 bis 1990, dann verlor er die Wahl. Seit 2007 ist er zurück. Er hat sich mit korrupten Politikern verbündet, die katholische Kirche umgarnt und die Unternehmer für sich gewonnen.

Er hat die Verfassung gebeugt und seine Gegner politisch kaltgestellt. Heute ist der frühere Revolutionär einer jener lateinamerikanischen Herrscher, die weder links noch rechts sind, sondern deren einzige Ideologie die Macht und ihr Erhalt ist.