Essen. Der ehemaliger Sozialminister Norbert Blüm (CDU) kritisiert den Streit in der Union. Und schlägt sich auf die Seite von Angela Merkel.

Im Streit um die Zuwanderung und den sogenannten „Masterplan“ greift der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) scharf an. In der Debatte um Quoten und Zurückweisungen gehe die Menschlichkeit verloren, sagte Blüm im Gespräch mit Christopher Onkelbach am Rande einer Veranstaltung in Essen. Begriffe wie „Asyltourismus“und „Asylgehalt“, die der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verwendet hatte, nannte er „zynisch“ und „schamlos“.

Herr Blüm, der Flüchtlingsstreit hätte beinahe zum Bruch der Koalition geführt, erkennen Sie Ihre Union noch wieder?

Norbert Blüm: Zunächst einmal, man muss nicht bei jedem Streit aus den Schuhen kippen. Auch früher schon gab es Streit, denken Sie an Kohl und Strauß. 1976 kündigte die CSU in Kreuth die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU auf. Aber diesmal geht der Streit tiefer, da prallen zwei Welten aufeinander. Es geht um die Alternative zwischen nationaler und europäischer Politik. Wir brauchen in der Flüchtlingspolitik aber eine europäische Lösung, Europa gehört doch zur Erbsubstanz der CDU. Die Union steht jetzt vor einer fundamentalen Weggabelung. Wobei ich befürchte, dass Seehofer mehr der Getriebene ist als der Treiber.

Ist Seehofers Strategie der geschlossenen Grenzen richtig? Entspricht dies nicht der Meinung vieler Menschen?

Blüm: Als Handwerker von Parteipolitik möchte ich dazu sagen: Das ist nicht nur fundamental und prinzipiell falsch, es ist auch parteitaktisch falsch. Wenn sie glauben, sie könnten auf die Tour die AfD klein halten, dann kann ich nur sagen, das Original ist immer besser als die Kopie.

Wieso halten Sie Grenzkontrollen und Zurückweisungen von Flüchtlingen für falsch?

Blüm: Seehofer war zwar mal mein Staatssekretär, aber handwerklich war das keine Meisterleistung von ihm. Wie soll das gehen? Wir machen unsere Grenzen zu, die Österreicher ebenfalls und die Italiener auch. Was ist da gewonnen? Sie müssen das Problem der Flüchtlinge zum Beispiel in Afrika lösen. Wenn da der Hunger ausbricht – als Familienvater würde ich doch auch abhauen. In Äthiopien haben große Agrarkonzerne ganze Landstriche aufgekauft, die ursprüngliche Subsistenzwirtschaft ist am Ende. Quellen werden von Konzernen wie Nestlé und Danone gekauft, um aus der kommenden Wasserknappheit Profit zu schlagen. Wir, die Bewohner der Wohlstandsinsel Europa, stehlen den Reichtum der sogenannten Dritten Welt und wundern uns, dass sich die Betroffenen auf den Weg machen. Ich sage voraus, es wird keine Mauer geben, die so hoch ist, dass sie eine Völkerwanderung stoppen kann.

Hat Angela Merkel im Herbst 2015 richtig gehandelt, als sie die Grenzen öffnete?

Blüm: Uneingeschränkt ja! Was hätte sie denn machen sollen? Hätte sie Zehntausende verzweifelte Flüchtlinge mit dem Wasserwerfer von der Autobahn spülen sollen? Die Alternative wäre doch gewesen, wir lassen die Leute auf der Autobahn verrecken. Doch ich sage nicht, dass alles so weitergehen kann. Die Last der Migration müssen wir europäisch teilen, das ist nicht nur eine Aufgabe von Deutschland. Aber so ganz musterhaft waren wir in der Vergangenheit auch nicht. Solange uns das Flüchtlingsproblem nicht betroffen hat, haben wir die Italiener allein gelassen. Europa muss solidarisch sein.

Während Europa über Solidarität streitet, ertrinken Menschen im Mittelmeer...

Blüm: Uns unterscheidet von Tieren, dass wir uns in andere Menschen hineinversetzen können. Wenn wir das verlieren, verlieren wir unsere Menschlichkeit. Im Übrigen löst auch ein Einwanderungsgesetz, das derzeit von vielen Seiten gefordert wird, nicht das Flüchtlingsproblem. Es bietet Rettung nur für die Qualifizierten. Wir holen uns die Ingenieure und die Krankenschwestern – und das Elend kann daheim bleiben. Früher haben wir die Bodenschätze ausgeraubt, jetzt die Qualifikation? Das kann nicht die Lösung sein.

Was empfinden Sie, wenn Sie Begriffe wie „Asyltourismus“ oder „Asylgehalt“ hören?

Blüm: Ich war in Idomeni, ich habe dort übernachtet. (Blüm hatte im März 2016 das griechische Flüchtlingslager besucht, Anm. der Red.) Nebenan schlief eine Mutter, die nur eines ihrer drei Kinder retten konnte – war sie eine Asyltouristin? Ich traf einen Vater mit zwei kleinen Kindern, er war Notar in Mossul. IS-Terroristen hatten ihm die Hand abgehackt, weil er damit Verträge mit ,Ungläubigen’ unterzeichnet hatte. War das ein Asyltourist? Das ist menschenverachtender Zynismus. Diese Leute sind nicht auf einer Vergnügungsreise. Der Begriff ist im wahrsten Sinne des Wortes schamlos. Eine Unverschämtheit. Ich wäre an Stelle dieser Menschen auch auf der Flucht.

Fehlt es uns an Mitgefühl?

Blüm: Ich glaube daran, dass man die Welt noch verändern kann.

Zur Person

Norbert Blüm (CDU) wird am 21. Juli 83 Jahre alt. Der überzeugte Katholik war von 1982 bis 1998 Bundessozialminister. Er war damit der einzige Bundesminister, der während der gesamten Kanzlerschaft von Helmut Kohl dem Kabinett angehörte. Blüm war auf Einladung der PSD-Bank Rhein-Ruhr in Essen. Nach seinem Vortrag stellte er sich den Fragen der Presse.

Dieser Artikel ist zuerst auf www.waz.de erschienen.