Der Erdogan-Staat entfernt sich immer weiter von der EU
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Von Michael Backfisch
Ankara. Mit seiner Allmacht entfernt sich Erdogan noch weiter von der EU. Dabei braucht Europa die Türkei – nicht nur in der Flüchtlingskrise.
Kurz vor seiner Amtseinführung als frisch gewählter türkischer Präsident an diesem Montag hat Recep Tayyip Erdogan noch einmal den Autokraten-Knüppel gezückt: Er feuerte handstreichartig knapp 19.000 Staatsbedienstete per Notstandsdekret. Darunter Polizisten, Soldaten, Lehrer und Richter.
Der Standard-Vorwurf lautete – wie so oft – Unterstützung des Terrors und geistige Nähe zu dem im US-Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen. Der soll nach offizieller Lesart für den gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 verantwortlich sein. Mehr als 100.000 Beamte wurden bislang unter diesem Vorwand entlassen.
Erdogan ist der Sultan von Ankara
Die verwaltungstechnische Schnellfeuer-Einrichtung der Notstands-Bestimmungen hat Erdogan ab heute nicht mehr nötig. Das neue Präsidialsystem macht ihn zum Sultan von Ankara. Er ist Staatsoberhaupt, Regierungschef und Vorsitzender der islamisch-konservativen AKP in einer Person.
Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan
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Erdogan kann ohne Zustimmung des Parlaments Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Unter dem Ausnahmezustand, der möglicherweise schon heute aufgehoben wird, mussten die Notstands-Bestimmungen nachträglich von der Volksvertretung bestätigt werden.
Auch bei Personalentscheidungen hat Erdogan völlig freie Hand. Die Berufung und Entlassung von Ministern und hohen Staatsbeamten obliegt nur ihm. Die Presse ist ein publizistisches Jubel-Kommando zu Ehren des Präsidenten. Rund 90 Prozent der Medien gehören regierungsnahen Unternehmen. Die Gewaltenteilung, die den Kern westlicher Demokratien ausmacht, ist ausgehebelt.
Türkei entfernt sich weiter von der EU
Der Erdogan-Staat folgt der Logik einer absoluten Monarchie. Es gilt das Motto von Frankreichs König Ludwig XIV. (1638 bis 1715): „L’état c’est moi“ – „der Staat bin ich“. Der neue, alte Präsident arbeitet an einem monumentalen historischen Projekt.
Zur 100-Jahr-Feier der Staatsgründung 2023 will er dem Land seinen eigenen Stempel aufdrücken. Mit der weltlich strukturierten Republik Türkei, die Kemal Atatürk im Oktober 1923 aus der Taufe gehoben hatte, hat dies nichts mehr zu tun.
Damit entfernt sich die Türkei unter Erdogan noch weiter von der EU. Die Beitrittsverhandlungen sind de facto zum Stillstand gekommen. Die Eröffnung weiterer Kapitel hat keinen Sinn. Auch an eine Erweiterung der Zollunion auf die Bereiche Dienstleistungen und Landwirtschaft ist derzeit nicht zu denken.
Europa braucht die Türkei
Dennoch darf es nicht zu einem Bruch der Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara kommen. In der Ära eines weltpolitischen Umbruchs, in der wir uns befinden, führen moralische Pauschal-Verdammungen nicht weiter.
Europa braucht die Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, in der Sicherheitspolitik, beim gemeinsamen Kampf gegen den Terror. In einigen Fällen konnten Anschläge von Islamisten durch wertvolle Hinweise der Geheimdienste am Bosporus verhindert werden.
Umgekehrt hat auch Erdogan kein Interesse daran, sämtliche Brücken nach Europa abzubrechen. Die Wirtschaft seines Landes ist auf die EU angewiesen. Mehr als 70 Prozent der ausländischen Direkt-Investitionen kamen im vergangenen Jahr aus der Gemeinschaft. Sie ist für die türkischen Exporteure der wichtigste Absatzmarkt. Zehn Prozent des Außenhandels gehen allein nach Deutschland.
Bei aller Kritik an dem neuen Präsidialsystem sollte der Gesprächsfaden mit Ankara nicht gekappt werden. Die Türkei ist für die EU wichtiger als Erdogan. Dessen Amtszeit ist endlich.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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