Berlin. An fünf Schauplätzen zeigte sich am Dienstag erneut, wie ernst die Lage in der Flüchtlingskrise ist. Eine Rundreise zu den Brandherden.

Bricht Europa auseinander? Scheitert Bundeskanzlerin Angela Merkel, steht die große Koalition vor dem Aus? Der Streit um die Verteilung von Migranten, das Ringen um eine faire Asylpolitik hat eine immense Sprengkraft entwickelt. An fünf Schauplätzen zeigte sich am Dienstag, wie ernst die Lage ist: Bei Krisengesprächen in Berlin und Rom, bei Grenzschutzübungen in Österreich, bei den Gipfelvorbereitungen in Brüssel – und in den Häfen der Mittelmeerländer.

Auch der gestrige Tag hat keine Lösung der Krise gebracht. Doch dieser 26. Juni 2018 belegt eindrücklich, warum eine Lösung so schwer ist. Weil sich Europas Grenzen nicht hermetisch abriegeln lassen. Und weil es innerhalb von Europa inzwischen so viele politische Fronten gibt: Zwischen CDU und CSU, zwischen der deutschen Kanzlerin und den Regierungschefs in Wien, Rom oder Budapest, und auch zwischen Europa und den nordafrikanischen Herkunftsländern der Flüchtlinge.

An diesem Donnerstag trifft Angela Merkel ihre europäischen Amtskollegen beim Gipfel in Brüssel. Die Hoffnung auf einen Durchbruch in der Flüchtlingskrise ist denkbar klein. Ein Scheitern aber kann sich niemand leisten.

Spielfeld, 7.55 Uhr

Es ist fünf vor acht an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien. Innenminister Herbert Kickl will zeigen, was Pünktlichkeit und Ordnung bedeuten. Er sei da, um ein „klares Signal in die Welt zu senden“. Nie wieder soll es Bilder geben wie im Herbst 2015, als „Zigtausende Fremde in Kolonnen auf unsere Grenze“ zugekommen seien. Ein Staat, der seine Grenzen nicht effektiv schützen könne, verliere seine Glaubwürdigkeit, erklärt Kickl.

CSU will im Flüchtlingsstreit an Zeitplan festhalten

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    Mehrere Hundert österreichische Polizisten und Soldaten üben an diesem Morgen an der Grenze zu Slowenien die Abwehr einer großen Flüchtlingsgruppe. Am Grenzzaun in Spielfeld übernehmen dabei rund 200 Polizeischüler die Rolle der geflüchteten Menschen, die mit Sprechchören das Öffnen der Grenze fordern und von der Polizei zurückgehalten werden. Die Soldaten sichern ihre Kollegen im Hintergrund der Grenze mit Waffen und Militärfahrzeugen ab.

    Aus Slowenien gab es in den vergangenen Tagen viel Kritik an der Übung, die zunächst an einem wichtigen slowenischen Feiertag stattfinden sollte und dann um einen Tag verschoben wurde. Sloweniens Innenministerin Vesna Györkös Znidar hatte nach Bekanntwerden der österreichischen Pläne betont, dass die Übung den Beziehungen der beiden Länder und dem gemeinsamen Bemühen in der Flüchtlingspolitik auf keinen Fall helfen würde. (fmg)

    Vatikan, 10.30 Uhr

    Vormittags im Vatikan: Fast eine ganze Stunde und damit viel länger als gewöhnlich nimmt sich Papst Franziskus Zeit, um in einer Privataudienz mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu sprechen. Mitten im EU-weiten Migrationsstreit. Flüchtlinge, Umweltschutz, globale Konflikte und Abrüstung sowie die Zukunft der EU seien zur Sprache gekommen, hieß es in einer Mitteilung des Vatikans. Franziskus setzt sich immer wieder für mehr Mitgefühl mit Migranten ein.

    Der Pontifex übergab wie bei solchen Audienzen üblich Macron eine Medaille mit St. Martin und machte darauf aufmerksam, dass es Aufgabe der Regierenden sei, den Armen zu helfen. Zwischen den beiden herrschte eine gute Atmosphäre, sie lachten, scherzten und es gab sogar ein Küsschen auf die Wange des Papstes.

    Kauder setzt auf Lösung im Unions-Streit

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      Zu einem Treffen mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte dagegen kam es nicht. Zwischen den Regierungen in Rom und Paris gibt es Streit in der Flüchtlingsfrage. Italiens rechter Innenminister Matteo Salvini wirft Frankreich vor, zahlreiche Migranten nach Italien zurückzuweisen. (fmg)

      Berlin, 11.30 Uhr

      Es ist früher Mittag in Berlin – und der Regierungsstreit zwischen CDU und CSU geht unvermindert weiter. Um 11.30 Uhr empfängt Bundeskanzlerin Merkel im Kanzleramt den neuen spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez, am Abend treffen sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD zum Koalitionsgipfel. Das Hauptthema ist auch dort der Unionsstreit um die Migration. Die Kanzlerin ringt um eine europäische Lösung – die Zeit wird knapp. Ausgerechnet die Richtlinie zur neuen Dublin-IV-Regelung sei noch strittig, sagt die Kanzlerin.

      Hier wird geregelt, welcher EU-Staat für ankommende Flüchtlinge zuständig ist. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will ab nächster Woche anordnen, dass Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden können, wenn sie bereits in einem anderen EU-Land registriert sind. Merkel ist strikt dagegen. Sie strebt eine Lösung im Einvernehmen mit den EU-Partnern an.

      Innenminister Horst Seehofer (CSU).
      Innenminister Horst Seehofer (CSU). © dpa | Ralf Hirschberger

      Ortswechsel: Während Merkel mit dem Spanier redet, philosophiert CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in der bayerischen Landesvertretung über den Begriff der Schicksalsgemeinschaft. „CDU und CSU sind eine Schicksalsgemeinschaft“, sagt er. Er habe dies immer so verstanden und dies treffe auch heute noch zu, betont er. Man habe auch in der Vergangenheit hart gerungen und immer eine Lösung gefunden.

      Doch Dobrindt sagt mit Blick auf den monatelangen Streit mit der Schwesterpartei über eine Obergrenze für Flüchtlinge auch, die CSU werde den „politischen Fehler nicht wiederholen, dass wir einen Dissens offen im Raum stehen lassen“.

      Der Streit um die Obergrenze war mit einem windelweichen Kompromiss ausgeräumt, aber nicht gelöst worden. Auf die Nachfrage, ob der Begriff Schicksalsgemeinschaft sich auch auf die Kanzlerin erstrecke, erklärt der CSU-Stratege: „Ich bilde persönlich maximal mit Horst Seehofer eine Schicksalsgemeinschaft.“

      Ob das so stimmt oder ob die drei CSU-Hauptakteure, Dobrindt, Seehofer und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, nicht schon lange auf jeweils eigene Rechnung spielen, ist zumindest einen längeren Gedanken wert. Doch noch hält man zusammen. Dobrindt verweist darauf, dass man zufrieden sei, wenn eine europäische Einigung „wirkungsgleiche“ Verhältnisse zu Zurückweisungen in Deutschland schaffe. Was er genau damit meint, bleibt offen.

      Doch zumindest ist der Ton am Dienstag etwas konzilianter als in den vergangenen Tagen. Seehofer etwa sagt, „wir sind ja im Ziel einig, es geht lediglich um das Verfahren“. Und fügt fast flehentlich an, dass er sich den Widerstand Merkels nicht erklären könne. In der CDU hört man die Signale gerne: Vize Thomas Strobl freut sich „wirklich sehr über diese Klarstellungen“. Es wäre „absurd, wenn sich die Union über eine Frage zerstreiten würde, bei der sie sich so einig ist“.

      Ein anderer mischt sich auch in die Diskussion ein: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plädiert für „Vernunft und Augenmaß“ und kritisiert die „maßlose Härte“ der Diskussion. Auch manchem Mitglied der CSU-Landesgruppe erscheint mittlerweile das Pokern mit dem Bruch der Fraktionsgemeinschaft zu hoch. Als Merkel in der gemeinsamen Fraktionssitzung später am Tag sagt: „Auch ich halte die Gemeinschaft von CDU und CSU für eine Schicksalsgemeinschaft, die auch Bestand haben wird“, brandet Applaus auf. Auch von der CSU.

      Brüssel, 16 Uhr

      Noch knapp 48 Stunden bis zum Krisengipfel. Im Pressezentrum des EU-Ratsgebäudes in Brüssel sind die Arbeitsplätze für die etwa tausend Journalisten bereits hergerichtet. Im großen Sitzungssaal prüfen Techniker noch einmal die Mikrofone. Hier werden am Donnerstagnachmittag um 15 Uhr die 28 Regierungschefs der Mitgliedstaaten zum wichtigsten Gipfeltreffen des Jahres zusammenkommen. Mit in der Runde: EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Das alles überragende Thema – die Flüchtlingsfrage – wird erst am Abend beraten, beim Abendessen und danach. „Es wird eine sehr lange Nacht“, sagt ein EU-Diplomat, der an den Vorbereitungen beteiligt ist.

      Der Schwerpunkt der Beschlüsse wird auf dem verstärkten Außengrenzschutz liegen – da ist die Einigkeit zwischen den Staaten groß. Auch Sammellager für Asylbewerber und Bootsflüchtlinge werden diskutiert. Tusk wird laut Entwurf für die Gipfelerklärung versuchen, der vor allem innenpolitisch schwer unter Druck stehenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Rücken zu stärken. Bilaterale Abkommen zur Rücknahme von Asylbewerbern sollen als Möglichkeit ausdrücklich unterstützt werden. Aber vieles sei noch im Fluss, heißt es. Es ist völlig offen, ob der Gipfel Merkel helfen wird. (ck)