Ankara/Berlin. Der Wahlsieg des Präsidenten – für den besonders viele Deutsch-Türken stimmten – löst viele Warnungen vor Willkür und Autokratie aus.

Eines der ersten Glückwunschtelegramme kam aus Moskau: Am Montag gratulierte der russische Präsident Wladimir Putin seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan zum Wahlsieg. Dessen Wahlergebnis zeuge von seiner „großen politischen Autorität“, schrieb Putin.

Die kollegialen Grüße aus Moskau erreichten den türkischen Staatschef genau in dem Moment, da Erdogan den bisher größten Triumph seines politischen Lebens feiert: In Zukunft kann der 64-Jährige die Türkei als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in einer Person regieren. Eine Machtfülle, für die am Sonntag auch Hunderttausende Deutschtürken gestimmt haben.

Merkel und Steinmeier gratulieren

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gratulierte dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zur Wiederwahl – allerdings erst am Montagabend. „Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Ihnen die Zusammenarbeit unserer Länder weiter zu fördern und zu vertiefen“, betonte die Kanzlerin. „Die Umbrüche im Nahen und Mittleren Osten und die daraus resultierenden Fluchtbewegungen betreffen unsere beiden Staaten in erheblichem Maße. Die Türkei hat dabei große Verantwortung gezeigt“, erklärte Merkel weiter. „Umso mehr wollen wir Partner einer stabilen und pluralistischen Türkei sein, in der die demokratische Teilhabe und die Wahrung der rechtsstaatlichen Ordnung gestärkt werden.“

Erdogan baut seine Macht aus

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    Wie viel Macht hat Erdogan jetzt?

    Die Türkei ist auf dem Weg in die Autokratie. Kritiker sprechen bereits von einer „Ein-Mann-Herrschaft“. Recep Tayyip Erdogan wird künftig als Staatschef nahezu uneingeschränkt handeln können. Möglich ist diese immense Machtfülle durch einen politischen Systemwechsel: Nachdem die Türken im vergangenen Jahr per Referendum für Erdogans Plan eines Präsidialsystems gestimmt haben, ist mit den Parlaments- und Präsidentenwahlen vom Sonntag der Übergang in das neue System abgeschlossen.

    Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft, Erdogan ist in Zukunft zugleich Staats- und Regierungschef. Als Vorsitzender der AKP, die mit ihrem ul­trarechten Bündnispartner die absolute Mehrheit errang, hat Erdogan zugleich die Kontrolle über das Parlament. Er kann zudem die Justiz stärker als bisher bestimmen, kann Verfassungsrichter einsetzen und die Besetzung von Staatsanwaltschaften beeinflussen.

    Und: Erdogan kann die Berichterstattung über seine Politik inzwischen weitgehend uneingeschränkt kontrollieren. Seit Jahren arbeitet die islamisch-konservative Regierung an einer Gleichschaltung der Medien, seit dem Putschversuch im Juli 2016 ist der Druck auf kritische Journalisten und Medien noch einmal massiv gewachsen. Noch immer gilt in der Türkei der vor zwei Jahren verhängte Ausnahmezustand.

    Hinzu kommt schließlich: Die Regierungszeit des 64-Jährigen ist aufgrund einer Verfassungsänderung nicht mehr auf zwei Amtszeiten beschränkt. Erdogans Macht ist somit nicht nur größer denn je, sondern scheint auch über Jahre hinaus zementiert. Das „neue Regime“ sei eine große Gefahr für die Türkei, sagte Muharrem Ince, Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, am Montag in Ankara. Eine einzige Person sei Staat, Exekutive, Legislative und Justiz geworden. „Im System gibt es keinen Mechanismus, der der Willkür und Grobheit im Weg steht.“

    Wahlbeobachter sprechen von Unregelmäßigkeiten – was ist dran an den Vorwürfen?

    Vor allem im Südosten des Landes wurden laut Beobachtern Wahllokale verlegt, was es vielen schwer gemacht habe, wählen zu gehen. Wahlbeobachter seien zudem behindert und Wähler eingeschüchtert worden. „Die Wähler hatten eine echte Wahl, aber sie hatten es schwer, ihr Wahlrecht zu nutzen“, sagte Audrey Glover, Leiterin der Beobachter-Mission des OSZE-Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR).

    Auch Oppositionspolitiker Ince übte am Montag massive Kritik am Ablauf der Wahl, erkannte Erdogans Sieg aber an: Es habe Unregelmäßigkeiten gegeben, die jedoch das Wahlergebnis nicht entscheidend beeinflusst hätten. „Haben sie Stimmen gestohlen? Ja, bestimmt haben sie das. Aber haben sie zehn Millionen Stimmen gestohlen? Nein.“ Erdogan kam nach Auszählung fast aller Stimmen auf 52,59 Prozent, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Ince gewann demnach 30,64 Prozent.

    In den Wochen vor der Wahl hatten besonders die regierungsnahen Medien, die den überwältigenden Teil an Medien in der Türkei stellen, den Wahlkampf Erdogans ausführlich dokumentiert. Ince und andere Oppositionskandidaten bekamen dagegen deutlich weniger Raum. Der Präsidentenkandidat der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, musste seinen Wahlkampf aus der Untersuchungshaft heraus führen.

    Was hat Erdogan jetzt vor?

    Gleich am Montag telefonierte Erdogan mit dem russischen Präsidenten: Der hatte ihm per Telegramm zum Wahlsieg gratuliert, kurz darauf griffen sie zum Hörer und vereinbarten die Fortsetzung ihrer engen Zusammenarbeit – etwa bei den Bemühungen um eine Beendigung des Krieges in Syrien. Wichtig seien zudem auch bilaterale Projekte wie die Gaspipeline durch das Schwarze Meer und der Bau des ersten türkischen Kernkraftwerks, hieß es aus Moskau. Während Erdogans Verhältnis zu den USA und den europäischen Partnern angespannt ist, ist Putin derzeit einer der wichtigsten Partner für die türkische Regierung.

    Wie reagiert die deutsche Politik?

    In einem Telefonat äußerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Hoffnung, dass es Erdogan gelingen möge, die türkische Gesellschaft wieder zusammenzuführen, sagte eine Sprecherin Steinmeiers am Montag der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage. Eine erfolgreiche wirtschaftliche, soziale und rechtsstaatliche Entwicklung der Türkei sei in Deutschlands Interesse.

    Bundesaußenminister Heiko Maas rief Erdogan dazu auf, so schnell wie möglich den Ausnahmezustand aufzuheben. Ein solcher Schritt könnte „das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland, aber auch zwischen der Türkei und Europa“ verbessern, sagte der SPD-Politiker. Maas kündigte an, das Ergebnis der Wahlen zu respektieren.

    „Wir sind gespannt, wozu das Ergebnis jetzt führt, wenn die Wahlen ausgewertet, abgeschlossen sind und die neuen Verantwortlichen ihre Arbeit aufnehmen“, sagte er. Die Unionsfraktion im Bundestag verlangte die umgehende Freilassung aller Deutschen, die sich ohne rechtsstaatliche Verfahren in türkischer Untersuchungshaft befinden. FDP und Linke forderten das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen.

    Wie haben die Deutschtürken gewählt?

    Die treuesten Erdogan-Anhänger leben in Deutschland – so scheint es jedenfalls: Der türkische Staatschef kam bei den Auslandstürken auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen (65 Prozent) – ein deutlich besseres Ergebnis als in der Türkei. Noch in der Nacht feierten seine Anhänger in vielen deutschen Städten mit wehenden Türkeiflaggen und Autokorsos.

    Die Erdogan-Wähler machen jedoch nur einen kleinen Teil der Türkeistämmigen in Deutschland aus: Von den rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln waren rund 1,5 Millionen wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag zudem bei knapp 50 Prozent. Tatsächlich wählten also weniger als 500.000 Deutschtürken Erdogan – und damit weniger als jeder sechste. Große Unterschiede gab es dabei allerdings zwischen einzelnen deutschen Städten. So lag der Anteil der Erdogan-Wähler in Berlin deutlich niedriger als etwa in Essen, Düsseldorf oder Stuttgart.

    Warum sind so viele Türkeistämmige Erdogan-Anhänger?

    Experten erklären das Wahlverhalten mit der sozialen Herkunft vieler Türken in Deutschland: Ihre Familien stammen oft aus ländlichen Gebieten der Türkei und damit überwiegend aus traditionellen Milieus. Erdogans autokratischer, islamisch-konservativer Politikstil kommt hier gut an – demokratische Freiheiten und Menschenrechtsfragen dagegen interessieren weniger. „Für sie ist Erdogan derjenige, der Krankenhäuser, Autobahnen und Einkaufszentren gebaut hat“, erklärte Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

    Der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte das Wahlverhalten der Deutschtürken scharf. „Die feiernden deutschtürkischen Erdogan-Anhänger jubeln nicht nur ihrem Alleinherrscher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus.“ CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer räumte mit Blick auf die Erdogan-Wähler in Deutschland ein, es sei fraglich, ob es wirklich gelungen sei, dass sich diese Bürger vor allem als deutsche Staatsbürger fühlten – „und weniger als türkische“.