Berlin. Thomas de Maizière wäre gern Bundesinnenminister geblieben, doch in der neuen Regierung war kein Platz für ihn. Wie geht es ihm heute?

Seine Büros waren früher größer und repräsentativer. Heute bleibt neben dem Schreibtisch und dem Bücherregal gerade mal Platz für eine kleine Sitzgruppe. Nach 20 Minuten unterbricht Thomas de Maizière das Gespräch, er muss für eine Abstimmung vom Paul-Löbe-Haus in den Bundestag. 15 Minuten später spaziert der CDU-Politiker zurück in sein Zimmer. Eile – das war einmal.

Er arbeitet an der „Wiederherstellung der Alltagstauglichkeit“, wie es Ehefrau Martina de Maizière nennt. Nach 28 Jahren als Staatssekretär und Minister auf Landes- und Bundesebene, zuletzt in der Hauptstadt als Kanzleramtschef, Innenminister, Verteidigungs- und wieder Innenminister kommt sich der 64-Jährige wie ein Leistungssportler beim „Abtrainieren“ vor.

Wie geht es einem Mann wirklich, der unfreiwillig von einem der mächtigsten Politiker des Landes zum einfachen Hinterbänkler degradiert wurde? „Das ist ein tiefer Einschnitt“, sagt er, ohne dass ein Jammern zu hören wäre. „Ein bisschen Abschiedsschmerz“ hat er noch.

Bamf-Affäre könnte de Maizière bald einholen

Die Vergangenheit könnte ihn bald einholen, falls der Bundestag zur aktuellen Bamf-Affäre einen Untersuchungsausschuss einrichtet. Vielleicht muss er bald im Innenausschuss aussagen. Es wäre wie ein spätes Echo der turbulenten Jahre, die hinter ihm liegen. Vorerst schweigt de Maizière zum Asyl-Skandal. Soll sich sein Nachfolger Horst Seehofer damit herumschlagen. Auch eine Freiheit: nicht reden zu müssen. Was soll ihm schon passieren?

Thomas de Maizere (CDU) in seinem Meißener Büro.
Thomas de Maizere (CDU) in seinem Meißener Büro. © Oliver Killig | Oliver Killig

Der Druck ist weg. Das zu verinnerlichen, dafür braucht er Zeit. Ein Erlebnis an einem Wochenende im April hat ihm das vor Augen geführt: Er ist in Nordrhein-Westfalen unterwegs, als er auf seinem Handy die Meldung „Minivan fährt in eine Menschenmenge“ liest. „Und da schoss mir durch den Kopf: Was muss ich jetzt tun? Nach wenigen Sekunden wurde mir natürlich klar, ich muss gar nichts mehr tun.“ Der nächste Gedanke: Was muss jetzt sein Nachfolger tun? „Und dann sagte ich mir: Auch das muss dich nicht mehr beschäftigen.“

Er legt sein Handy weg und informiert sich erst am Abend wieder wie Millionen Deutsche in der „Tagesschau“ über die Amokfahrt in Münster. De Maizière schildert die Episode, weil sie für ihn eine gute und eine schlechte Seite hat. Ein „schlechtes Zeichen“ ist für ihn, dass er instinktiv in die alte Rolle gesprungen sei; das gute aber, dass er darüber reflektiert habe.

Das Handy liegt nicht mehr eingeschaltet neben dem Bett

In den Tagen nach der Amtsübergabe Mitte März schlief er viel – und merkte auch daran, wie erschöpft er war. Die Anspannung weicht, das Handy liegt nicht mehr eingeschaltet griffbereit auf dem Nachttisch. Rückblickend fragt er sich schon mal, „wie ich als Minister das enorme Pensum in den Tag hineingequetscht habe“.

Der Minister de Maizière teilt seine Tage in Brutto- und Nettozeiten auf. Die Bruttozeit ist die Spanne, die morgens in der Limousine vor seiner Haustür beginnt und abends in selbiger endet. Manche seiner Tage als Minister sind vielleicht nicht länger als bei vielen anderen Arbeitnehmern, aber aus seiner Sicht deutlich anstrengender: „Die Ansammlung von Nettozeit ist viel höher als bei anderen Menschen.“ Er meint die Spanne, in der er wirklich Aufgaben erledigte: Termin an Termin, hier argumentieren, da zuhören, immer entscheiden, entscheiden, entscheiden, immer hellwach.

Spitzenpolitiker haben einen Apparat um sich, der ihnen jedes Gespräch, jeden Beschluss, jede Reise vorbereitet und ihnen abnimmt, was nicht wirklich wichtig ist. Ein Minister lebt fast ausschließlich in der Nettozeit. „Sie sind voll konzentriert auf den Inhalt, alle anderen um sie herum haben längere Vor- und Nachbereitungsphasen.“

De Maizière wird immer ungeduldiger

Weil sein Leben so durchgetaktet ist, fallen ihm Zeiträuber umso mehr auf: Bedenkenträger im eigenen Haus, Kollegen in Partei, Fraktion und Koalition, Lobbyisten, Journalisten. Je älter er wird, desto ungeduldiger ist er, wenn seine Zeit vergeudet wird. „Zum 100. Mal das Gleiche zu erklären, ist nervig.“

Cousins unter sich: Gemeinsamer Fernsehauftritt mit Lothar de Maizière, dem ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR.
Cousins unter sich: Gemeinsamer Fernsehauftritt mit Lothar de Maizière, dem ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR. © picture alliance / ZB | dpa Picture-Alliance / Thomas Schulze

Auch Repräsentation hat ihm zugesetzt. Die Beerdigungen von Soldaten oder der Besuch der McDonald’s-Filiale nach dem Amoklauf in München 2016. Auch mit sich selbst hat er gehadert, etwa nach diesem einen Satz, mit dem er in Hannover aus Sorge vor einem Anschlag ein Fußball-Länderspiel absagte. Wie aus der Pistole geschossen zitiert er sich selbst: „Teile dieser Antworten würden die Bevölkerung verunsichern.“ In der Situation fiel ihm nichts Klügeres ein.

„Oft“ habe er sich darüber geärgert. „Der Satz war missglückt. Allerdings wäre eine andere Antwort auch nicht so leicht gewesen.“ Zu spät. Den Spott musste er nicht besorgen; wer den Schaden hat, muss das nie.

Zeit unter Biedenkopf war für de Maizière am schönsten

Mit seiner Entscheidung vom September 2015, Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten an der Grenze passieren zu lassen, hadert er hingegen nicht. De Maizière konnte es sich nicht vorstellen, „dass wir alle die hässlichen Bilder aushalten“. Was wäre, wenn man versucht hätte, die Flüchtlinge zurückzuweisen, aber die Polizei dabei kapituliert hätte? „Dann hätte sich der deutsche Staat erst recht lächerlich gemacht.“ Als Minister hatte er die Entscheidung zu vertreten: „Entweder wird es durchgesetzt – mit brutalsten Bildern –, oder es wird nicht durchgesetzt, dann lässt man es lieber gleich.“

Nach all den Ämtern: Wo war es am schönsten? Nicht in Berlin. Sondern in Dresden. „Chef der Staatskanzlei unter Kurt Biedenkopf, mit einer absoluten Mehrheit“, sagt der Ex-Minister. „Das war überschaubar, Biedenkopf unangefochten“, und König Kurt überließ seinem „lieben jungen Freund“ viele Dinge. Irgendwann aber rief Angela Merkel an. „Als ich von der schweren, aber verlockenden Kost der Bundespolitik gekostet hatte, wollte ich dann nicht zurück.“

Echte Freunde in der Politik hat er nur ganz wenige

Den Schlusspunkt seiner Karriere hätte er gern selbst bestimmt. Noch in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD denkt er, dass er gesetzt sei. „Es gab Überlegungen, nicht die ganze Legislaturperiode Innenminister zu sein“, verrät er. Mehr aber auch nicht. Im „Spiegel“ war zu lesen, wie der eigentliche Plan aussah: die Übergabe des Innenministeriums an Annegret Kramp-Karrenbauer.

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Doch die Koalitionsverhandlungen gehen in eine Reise nach Jerusalem über: Seehofer wird Innenminister, Kramp-Karrenbauer CDU-Generalsekretärin, und de Maizière vernimmt aus den Medien, dass für ihn im Kabinett kein Platz ist. Nichts da mit dem geordneten Übergang. „Die Übermittlung war unglücklich und nicht in Ordnung“, sagt er, „aber Frau Merkel war noch beim Verhandeln, ihr kann ich keinen Vorwurf machen.“ Er kennt die Kanzlerin seit März 1990, seit sie in der Politik ist. Über das Verhältnis sagt er, es sei „sehr lang gewachsen, sehr intensiv, sehr eng“. Seine Loyalität kennt nicht den politischen Aggregatzustand „außer Dienst“.

Ob Merkel und de Maizière befreundet sind, will er nicht beantworten. Echte Freunde in der Politik, davon habe er ganz wenige. Außerhalb des Betriebs waren sie ihm wichtiger. Das hilft, Distanz zu gewinnen, so auch wie jeden Abend ein paar Seiten zu lesen, „bis mir die Augen zugefallen sind“ – bewusst Belletristik, weniger politische Sachbücher. Dann lieber Christoph Hein, Monika Maron, Juli Zeh.

Musik hilft de Maizière bei der Entspannung

Zu Hause in Dresden steht auch noch der Flügel, er wird regelmäßig gestimmt, aber nur einmal im Jahr zu Weihnachten gespielt. Musik ist für ihn „zentral“, sie entspannt ihn seit jeher, mit klassischer Musik hat er früher „Akten gemacht“.

Was fängt er an mit dem Leben nach dem Einschnitt? Er arbeitet sich in den Finanzausschuss im Parlament ein, „ich wollte mal was ganz anderes machen“. Wie sehr er sich noch einmal mit Fragen zu Asyl-Skandalen befassen muss, ist noch nicht klar. Eine andere Sache schon: Für sein Ego braucht er es nicht mehr, am Kabinettstisch zu sitzen. „Was mache ich eigentlich, wenn ich nicht mehr Minister bin? Dieses Gefühl habe ich nicht.“ Er spürt längst, dass er mehr gewonnen als verloren hat. „Freiheit, Bewegungsraum, Zustimmung.“ Im Sommer kann er endlich ungestört in den Urlaub fahren. Das erste Mal seit der Hochzeitsreise 1985.