Kiew. Der angebliche Mord an dem russischen Journalisten Arkadi Babtschenko war ein Spezialeinsatz. Die Aktion war über Monate vorbereitet.

Auf einmal betritt er den Raum der Pressekonferenz. Schwarzer Kaputzenpullover, kahlrasierter Kopf. Kein Lächeln, kein Wort zur Begrüßung. Mit den Zähnen knetet er seine Lippen. Sein Blick verrät Nervosität.

Arkadi Babtschenko, so hatten es Medien weltweit noch wenige Stunden zuvor gemeldet, soll tot sein. Erschossen im Treppenhaus seiner Kiewer Wohnung, 41 Jahre alt. Drei Schüsse in den Rücken. Babtschenkos Frau Olga habe die dumpfen Geräusche noch gehört, schilderte sie am Dienstagabend, dem Tag der Tat.

Der Schütze habe vor dem Haus gewartet. Ein Profi, mutmaßten viele. Beauftragt vom russischen Geheimdienst? Der ukrainische Ministerpräsident sprach von der „totalitären russischen Maschine“. Das Auswärtige Amt in Berlin vom „feigen und hinterhältigen Mord“. Große Worte, große Wut. Wieder ein Mord an einen kremlkritischen Journalisten?

Wie Drehbuch eines Agenten-Thrillers

Aber Babtschenko lebt.

Und damit endet ein Mittwoch in der Ukraine, dessen Verlauf und Vorgeschichte nun puzzleartig zusammengesetzt werden muss. Es klingt wie das Drehbuch eines Agenten-Thrillers. Es geht um Geheimdienst-Operationen und Mordkommandos. Gerade deshalb sind Informationen und Aussagen an diesem Tag nur schwer zu prüfen.

Als Babtschenko den Raum der Pressekonferenz betritt, staunen die Journalisten erst fassungslos, dann jubeln sie. Eigentlich waren sie hier, um mehr über seinen Tod zu erfahren.

Nun steht er vor ihnen.

Und neben ihm erklärt ein Mann in Uniform, was passiert sei. Es ist Wassili Grizak, Chef des ukrainischen Geheimdienstes. Der angebliche Mord sei eine über Monate vorbereitete Aktion gewesen – um Anschlagspläne des russischen Geheimdienstes zu enttarnen. Russland habe einen Auftragsmörder für die Exekution Babtschenkos angeheuert.

Eigenen Tod inszeniert

Arkadi Babtschenko auf der Pressekonferenz mit Medienvertretern.
Arkadi Babtschenko auf der Pressekonferenz mit Medienvertretern. © dpa | Efrem Lukatsky

40.000 Dollar habe der Mann aus der Ukraine dafür bekommen. Doch von den Plänen hätten die ukrainischen Sicherheitsbehörden Wind bekommen. Um Täter und Hintermänner des Plans zu überführen, „musste man sie überzeugen, dass der engagierte Killer seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt hat“. Also inszenierte Babtschenko seinen eigenen Tod. Ein Foto zeigt einen Mann, auf dem Bauch liegend, blutüberströmt. Das Foto kursierte seit Bekanntwerden des angeblichen Mordes im Internet.

Weitere Einzelheiten gibt der Geheimdienst-Chef nicht bekannt. Dann tritt der Mann vor das Mikrofon, der für einen Tag lang totgeglaubt war. „Ich möchte mich für das entschuldigen, was Sie alle durchmachen mussten“, sagt er. Und entschuldigte sich bei seiner Frau, die „durch die Hölle gegangen“ sei. Aber es habe keine andere Möglichkeit gegeben. Seit einem Monat sei Babtschenko eingeweiht gewesen. Was genau er der Öffentlichkeit über die vergangenen Wochen sagen könne, wisse er nicht. Deshalb wolle Babtschenko sich vor allem bei den Geheimdienstlern bedanken. Sie hätten sein Leben gerettet.

Arbeit bei kremlkritischer Zeitung „Nowaja Gaseta“

Jedenfalls sofern die Geschichte stimmt, die nun durch die ukrainischen Behörden verbreitet wird. Hinweise auf Unwahrheiten gibt es nicht. Die russische Regierung äußerte sich bis zum Abend nicht. Man sei nur froh, dass Babtschenko am Leben sei.

Aber warum wurde Babtschenko in Russland zum Staatsfeind? Mit 18 wird er eingezogen, dient als Soldat in den Tschetschenien-Kriegen. Wieder zurück in Moskau wird er Journalist, arbeitet wie die 2006 ermordete Anna Politkowskaja bei der kremlkritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“. Über Tschetschenien, Sadismus und Korruption in der russischen Armee schreibt er ein preisgekröntes Buch, „Die Farbe des Krieges“. Als Kriegsreporter berichtet er aus Südossetien.

In Moskau nehmen die Repressalien zu. Als er 2017 einen kritischen Beitrag über die russische Bombardierung von Aleppo auf Facebook teilt, wird er zu Freiwild erklärt. Seine ­Adresse wird veröffentlicht, Staatsmedien und Politiker drohen ihm.

Medien auf beiden Seiten sind Waffen

Babtschenko fürchtet um sein Leben, zieht 2017 erst nach Prag, dann nach Israel. In Kiew kommt er zunächst zur Ruhe. Dort arbeitet er für einen krim-tatarischen TV-Sender. Doch die Angst bleibt. Er hört, wie weiter gegen ihn gehetzt wird. Erlebt, wie andere zu Opfern werden. Anfang März werden in Großbritannien der russische Ex-Doppelagent Oleg Skripal und dessen Tochter vergiftet.

Der Fall Babtschenko ist nun ein weiteres Kapitel im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Seitdem prorussische Millizionäre 2014 mit Hilfe aus Moskau die Ostukraine besetzt halten, herrscht Krieg. Noch immer kommt es zu Angriffen. Noch immer sterben Menschen. Auch die Medien auf beiden Seiten sind Waffen. Längst ist der Konflikt auch ein Propagandakrieg. Und ein Krieg, in dem Europas Diplomaten seit Jahren um Deeskalation bemüht sind.

Allen voran der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). Wie es der Zufall will, ist er nur etwa 20 Minuten entfernt, als Babtschenko angeblich erschossen wird. Steinmeier isst gerade mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Schadan zu Abend. Gegen Mitternacht wird er in seinem Hotel informiert.

Militärhubschrauber abgeschossen

Auch Steinmeier weiß nicht, dass Babtschenko noch lebt, spricht vom Mord „auf brutalste“ Art und Weise. „Nicht zum ersten Mal ein Journalist, nicht zum ersten Mal hier.“ 2015 starb der Publizist Oleg Bu­sina in seinem Wohnhaus. Im Juni 2016 wurde in Kiew der weißrussische Journalist Pawel Scheremet durch eine Autobombe getötet, ein Freund des erschossenen russischen Oppositionsführers Boris Nemzow.

Noch am Dienstag hatte Babtschenko sich über den 29. Mai gefreut. Vor genau vier Jahren war ihm ein Mitflug in einem Militärhubschrauber in der Ostukraine verweigert worden. Der Heli wurde abgeschossen, 14 Menschen starben. „Und ich hatte Glück. Ein zweiter Geburtstag, wie sich herausstellte“, twitterte er. Vielleicht wusste er zu diesem Zeitpunkt schon, dass er dem Tod offenbar ein zweites Mal entkommen ist.