Berlin. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth ist Kennerin der türkischen Politik. Im Interview spricht sie über die Wahl und Deutschlands Rolle.

Wahlen in der Türkei wirken sich immer auch auf Deutschland aus – allein deswegen, weil in der Bundesrepublik fast 1,5 Millionen Türken leben, die in ihrer Heimat wahlberechtigt sind. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und profunde Türkei-Kennerin, ruft Politik und Wirtschaft in Deutschland zu einer härteren Gangart gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf.

Frau Roth, welche Hoffnung verbinden Sie mit der vorgezogenen Parlamentswahl am 24. Juni in der Türkei?

Claudia Roth: Hoffnung wäre übertrieben, die frühen Wahlen spielen vor allem Erdogan in die Karten. Aber ich wünsche mir, dass sich die Oppositionskräfte, die noch nicht im Gefängnis sind, zusammenschließen – und als Bündnis antreten, das eine wirkliche Alternative zu Erdogan darstellt. Das wird ganz schwer.

Der türkische Präsident hat den Ausnahmezustand verlängern lassen – wie will man da eine faire, unabhängige Wahl organisieren? Erdogan hat außerdem ein Wahlgesetz auf den Weg gebracht, das seine Partei bevorzugt und der Manipulation Tür und Tor öffnet. Man kann jetzt ungestempelte Wahlzettel abgeben. Ich befürchte, da wird Wahlbetrug im großen Stil vorbereitet.

Wie denken Sie über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland?

Roth: Die letzte Bundesregierung hat beschlossen, dass ausländische Politiker in den drei Monaten vor einer Wahl in ihrer Heimat nicht mehr bei Wahlkampfveranstaltungen in Deutschland auftreten dürfen. Diese Regel gibt es nun, sie ist aber kein Ausdruck starker Demokratie. Ich hätte darauf verzichtet.

Dann könnte Erdogan, der Deutsche in der Türkei als Geiseln nimmt, flammende Reden in deutschen Städten halten …

Roth: Solange die Sicherheit gewährleistet ist, halten wir das aus. Und wir haben Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die sollte auch für Erdogan gelten, aber für türkische Oppositionspolitiker natürlich ebenso. Deutschland könnte zeigen, was der Unterschied ist zwischen einer liberalen Demokratie und der präsidialen Autokratie in der Türkei. Und Erdogan müsste sich gefallen lassen, dass gegen ihn und für die Freilassung der politischen Gefangenen demonstriert wird.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kommt am 29. Mai nach Solingen, um der Opfer des Brandanschlags vor 25 Jahren zu gedenken. Auf Einladung von Ministerpräsident Armin Laschet wollte Cavusoglu auch im nordrhein-westfälischen Landtag reden – doch nach großem Protest wurde der Auftritt abgesagt ...

Roth: Das ist leider nicht sehr souverän gelaufen. Cavusoglu hat natürlich das Recht, zum Gedenken an den schrecklichen Mordanschlag nach Solingen zu kommen. Es war aber unnötig, Cavusoglu in den Landtag einzuladen – erst recht vonseiten des Ministerpräsidenten. Wir haben ja schon noch die Gewaltenteilung! Wenn der türkische Außenminister anschließend wieder ausgeladen wird, weil Fraktionen sich sperren, korrigiert die Opposition hier unglückliche Regierungspolitik.

Welchen Umgang mit Erdogan erwarten Sie von der Bundesregierung?

Roth: Erdogan reagiert sehr sensibel, wenn es wirtschaftlichen Druck gibt. Das Versprechen der vergangenen Regierung, die Hermes-Bürgschaften zurückzufahren, wurde überhaupt nicht eingelöst. Die Bürgschaften sind gedeckelt worden, bei 1,5 Milliarden Euro – dem bisherigen Höchststand. Das ist absurd und völlig unwirksam.

Stattdessen müssen wir diese Investitionshilfen merklich begrenzen. Außerdem: Warum sagen eigentlich Firmen wie Siemens, die in der Türkei riesige Gewinne einfahren, nicht mal was zum Ausnahmezustand, der ja auch das Streikrecht aufhebt? Unternehmen agieren nicht im politischen Vakuum. Sie tragen Verantwortung wie wir alle, für demokratische Rechte einzutreten. Und dann sind da ja noch die Rüstungsgeschäfte mit der Türkei …

… die wie Deutschland in der Nato ist. Da lassen sich Rüstungsgeschäfte schwer unterbinden.

Roth: Es ist aber möglich. Solange die Türkei ihre völkerrechtswidrige militärische Belagerung in Syrien nicht beendet, verbietet sich jegliches Rüstungsgeschäft – Nato hin oder her. So steht es auch in unseren Rüstungsexportrichtlinien. Das Vorgehen Ankaras ist absolut inakzeptabel und erfordert spürbare Konsequenzen.

Soll diese Türkei in der Nato bleiben?

Roth: Es wäre zu einfach, nun zu fordern: Schmeißt die Türkei aus der Nato. Aber die Nato verspielt jede Glaubwürdigkeit als Wertebündnis, wenn sie die Entwicklung der Türkei nicht endlich auf die Tagesordnung setzt und Konsequenzen berät – auf höchster Ebene, im Nordatlantikrat.

In den sozialen Netzwerken wird der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mit Erdogan verglichen, weil er christliche Kreuze in allen bayerischen Behörden haben will. Nehmen Sie den CSU-Mann in Schutz?

Roth: Markus Söder ist kein Autokrat, der Vergleich hinkt also gewaltig. Aber Bayern ist auch kein Gottesstaat. Herr Söder macht einen riesengroßen Fehler, wenn er glaubt, dass die Rückgewinnung der absoluten Mehrheit jedes Mittel heiligt. Er missbraucht das Kreuz für seinen Wahlkampf und vermischt bewusst Religion und Politik. Das finde ich in hohem Maße unchristlich, unanständig sowieso.

Bayern ist ein weltoffenes, tolerantes, vielfältiges, multireligiöses, großartiges Bundesland. Wenn Söder als Landesvater in allen Behörden christliche Kreuze aufhängen lässt, instrumentalisiert er nicht nur eine Religion, sondern grenzt auch Millionen Menschen aus – Muslime, Atheisten, Juden. Söder vertritt einen ganz alten Heimatbegriff: „Zur Heimat gehört, wer der CSU angehört.“ Das ist brandgefährlich.