Brüssel. Wird die Türkei reif für Europäische Union? Die EU-Kommission sieht im Gegenteil große Rückschritte. Und stellt klare Forderungen.

Die EU-Kommission erteilt der Türkei in den EU-Beitrittsverhandlungen einen schweren Dämpfer. Die Türkei habe „große Schritte weg von der EU gemacht“, es gebe „gravierende Rückschritte“ in den Schlüsselbereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Reform der öffentliche Verwaltung und Meinungsfreiheit, heißt es im neuen Fortschrittsbericht zum Stand der Beitrittsverhandlungen, den die Kommission am Dienstag in Straßburg vorstellen will und aus dem wir hier zitieren.

„Unter den derzeit vorherrschenden Umständen wird die Öffnung neuer Verhandlungskapitel nicht in Betracht gezogen“, erklärt die Kommission. Als einen ersten Schritt für eine notwendige Umkehr fordert der Bericht, die Türkei solle den seit fast zwei Jahren geltenden Ausnahmezustand „ohne Verzögerung aufheben“.

Der Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verhängt worden war, beschneide die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber und greife substantiell in Bürgerrechte und politische Rechte ein. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte erst Ende März den Wunsch nach einem Beitritt seines Landes in die EU bekräftigt und erklärt, dieser Beitritt bleibe strategisches Ziel.

Beitrittsverhandlungen sollen mit Mazedonien und Albanien aufgenommen werden

In den Fortschrittsberichten für die sechs Westbalkan-Staaten, die unserer Redaktion ebenfalls vorliegen, wird die Aussicht auf einen EU-Beitritt unterstrichen, allerdings mahnt die Kommission nachdrücklich größere Reformanstrengungen an. Die Beitrittsverhandlungen, die bisher mit Montenegro und Serbien geführt werden, will die Kommission ausweiten: „Im Licht der erreichten Fortschritte“ empfiehlt sie die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen auch mit Mazedonien und Albanien.

Der Fortschrittsbericht bezeichnet die Türkei dagegen zwar als „Schlüsselpartner für die EU“ und bestätigt auch den Status eines Beitrittskandidaten. Aber die Kommission kritisiert vor allem die Maßnahmen, die die türkische Führung nach dem gescheiterten Putsch eingeleitet hat. Deren Ausmaß, die „kollektive Natur“ der Maßnahmen und ihre Unverhältnismäßigkeit weckten ernste Besorgnis. Seit dem Beginn des Ausnahmezustands seien 150.000 Menschen in Gewahrsam genommen und 78.000 inhaftiert worden, 110.000 Staatsbedienstete seien entlassen worden. Über 150 Journalisten säßen im Gefängnis, zusammen mit Schriftstellern, Menschenrechts-Aktivisten, Anwälten und Abgeordneten. Die Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten hätten die Unabhängigkeit der Justiz ebenso untergraben wie Verfassungsänderungen, die die Gewaltenteilung schwächten.

Migationspolitik der Türkei wird positiv hervorgehoben

Positiv wird in dem Bericht aber die Migrationspolitik der Türkei hervorgehoben: In „herausragenden Anstrengungen“ versorge die Türkei gegenwärtig mehr als 3,5 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge. Die EU bleibe verpflichtet, der Türkei bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu helfen. Die EU-Kommission bekräftigt auch ihren Vorschlag, die Zollunion zwischen der EU und der Türkei auszuweiten und zu modernisieren – dies wäre von beiderseitigem Nutzen.

Für die sechs Westbalkan-Staaten heißt es, ihre im Februar von der Kommission bekräftigte Beitrittsperspektive sei eine starke Botschaft der Ermutigung und ein Zeichen für das Engagement der EU. Es gebe ein „historisches Fenster der Gelegenheit“, die Zukunft der Region fest und zweifelsfrei an die EU zu binden. Die Regierungen dürften aber keinen Zweifel an ihrer strategischen Orientierung und ihrem Engagement lassen.

Die Länder der Region müssten jetzt mit Entschlossenheit zu entscheidenden und unumkehrbaren Fortschritten kommen. Montenegro und Serbien werden Fortschritte in den Verhandlungen attestiert, ein Datum für einen möglichen EU-Beitritt wird aber nicht in Aussicht gestellt; im Februar hatte die Kommission dafür das Jahr 2025 genannt. Die Kommission mahnt jetzt für Serbien Reformen vor allem für mehr Rechtsstaatlichkeit an und fordert eine Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo.

Für alle Beitrittskandidaten des Westbalkan und die Türkei benennt der Bericht Korruption und organisierte Kriminalität als weit verbreitetes Problem. Die Region bleibe eine wichtige Eingangsroute für den Schmuggel von Drogen, Waffen und Menschen in die EU. (fmg)