Tunis. Tausende Tunesier wollen nach Europa. Die Bundesregierung investiert Millionen, damit sie zu Hause bleiben. Ein Besuch in Tunis.

Mounir Ben Abdallah hat es geschafft. Der junge Tunesier wird bald in Deutschland sein. Er trägt einen schwarzen Bart, ein schüchternes Lächeln und freut sich, dass es nun im April endlich losgeht – nach Wiesbaden in eine Klinik, wo Krankenpfleger verzweifelt gesucht werden. Mounir sitzt im deutschen Zentrum für Migration in Tunis, wo er die Hilfe gefunden hat, um legal nach Deutschland zu kommen.

Der 28-Jährige hat für seinen Traum hart gearbeitet. Er machte Nachtschichten als Krankenpfleger, um tagsüber Deutsch zu lernen. In Tunis verdient der junge Mann 500 Dinar, umgerechnet etwa 170 Euro – im Monat. Aber jetzt soll alles besser werden. Mounir war noch nie in Deutschland, und er zögert ein wenig bevor er sagt: „Ich kann mir auch vorstellen, für immer zu bleiben.“

Sieben Jahre nach Beginn der tunesischen Revolution kämpft die einzige Demokratie in der Region gegen Korruption, Stillstand und das schwere Erbe der Diktatur. Viele tausend junge Tunesier hält nichts mehr in ihrer Heimat. Sie wollen nach Europa – notfalls übers Meer. Mounir hat es auf dem sicheren Weg geschafft: Im deutschen Konsulat hat er schon sein Visum abgeholt, erstmal für ein Jahr.

Fortbildungen und Umschulungen

Der junge Tunesier Mounir Ben Abdallah hat ein Visum für Deutschland bekommen, zumindest für ein Jahr.
Der junge Tunesier Mounir Ben Abdallah hat ein Visum für Deutschland bekommen, zumindest für ein Jahr. © Thomas Imo/photothek.net | Thomas Imo/photothek.net

Die Bundesregierung will Tunesiern wie ihm eine Brücke nach Deutschland bauen. Es fehlt an Pflegekräften, IT-Spezialisten und Mitarbeitern im Hotel- und Gaststättengewerbe. Wenn sie eine Ausbildung haben und gut genug deutsch sprechen, sind sie willkommen. Die vielen anderen aber sollen nach dem Willen der deutschen Regierung in Tunesien bleiben. Damit sie nicht in die Boote nach Europa steigen, will man ihnen mit Fortbildungen und Umschulungen helfen, eine Perspektive in der Heimat zu finden.

Deshalb war Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor gut einem Jahr nach Nordafrika gereist. Drei Monate nach dem furchtbaren Anschlag auf der Berliner Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten musste die Regierung den beunruhigten Wählern zeigen, dass sie einen Plan hat. Der Attentäter Anis Amri, ein junger Tunesier, war trotz seines abgelehnten Asylgesuchs in Deutschland geblieben. Merkel vereinbarte mit der tunesischen Regierung einen Kurswechsel. Tunesien sollte abgelehnte Asylbewerber und ausreisepflichtige Landsleute schneller zurücknehmen.

Im Gegenzug erhöhte die Bundesregierung die Hilfe für das nordafrikanische Land noch einmal. Zudem entstand das „Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration, um Rückkehrer aus Deutschland zu unterstützen. Zumindest steigt die Zahl der Abschiebungen nach Tunesien jetzt. Sie lag 2017 bei 251 und hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt, geht man bis 2015 zurück, dann hat sie sich sogar vervierzehntfacht. Im Januar 2018 wurden 33 Tunesier abgeschoben. Mehr als 1400 leben noch in Deutschland, obwohl sie kein Aufenthaltsrecht mehr haben.

Dutzende Tote auf See

Doch mit den Abschiebungen ist das Problem nicht gelöst. Im vergangenen Jahr haben so viele Menschen Tunesien verlassen, wie seit der friedlichen Revolution im Jahr 2011 nicht mehr. Nach der Flucht des Diktators Ben Ali herrschte Chaos. Mindestens 22.000 Tunesier (manche sagen sogar mehr als 30.000) versuchten damals, nach Europa zu kommen. Danach gaben viele von ihnen der neuen Demokratie eine Chance.

Aylin Tuerer-Strzelczyk leitet das Migrationszentrum in Tunis.
Aylin Tuerer-Strzelczyk leitet das Migrationszentrum in Tunis. © Thomas Imo/photothek.net | Thomas Imo/photothek.net

Doch im vergangenen Jahr schnellten die Zahlen wieder nach oben: Italienische Behörden zählten 2017 mehr als 6100 Tunesier, die tunesische Polizei stoppte 7800 Migranten. Insgesamt versuchten und schafften es damit wohl mindestens 14.000 Tunesier nach Europa; dazu kommen diejenigen, die auf beiden Seiten der Küste unkontrolliert blieben. Für ein kleines Land mit elf Millionen Einwohnern ist das viel. Und der Exodus dauert an: Obwohl es im vergangenen Jahr auf See Dutzende Tote gab, wurden seit Jahresbeginn bis Mitte März 1073 Tunesier an den italienischen Küsten registriert.

Es sind vor allem die jungen Menschen, die ihre Zukunft in Europa suchen. Dafür gibt es Gründe: Die Arbeitslosigkeit der 16- bis 30-Jährigen ist hoch. In einigen Regionen im Landesinneren bis zu 50 Prozent. Wer das Abitur nicht schafft, gilt als Schulabbrecher. Eine Mittlere Reife gibt es nicht, und auch keine Lehre wie in Deutschland.

Ungeduld mit politischer Führung nimmt zu

Selbst ein Universitätsabschluss ist keine Garantie für eine gute Stelle mehr. Auch wer die Hochschule absolviert, steht sehr häufig ohne Arbeit da. Während die Bundeskanzlerin von Tunesien als einem „Leuchtturm der Hoffnung“ schwärmt, wächst im Musterland des arabischen Frühlings eine „Generation hoffnungslos“ heran, die Ungeduld mit der politischen Führung nimmt zu.

„98 Prozent aller Tunesier, die bei uns Rat suchen, wollen weg aus Tunesien und legal nach Deutschland“, sagt Aylin Türer-Strzelzyk. Sie leitet das Migrationszentrum in Tunis. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) eröffnete es im März 2017 höchstpersönlich – so wichtig ist der Bundesregierung das Projekt. Große Plakate in den Schaufenstern in der Rue Ibn El Jazzar, gleich neben dem belebten Cafe Lausanne, erläutern den Weg ins gelobte Land, der für die allermeisten Besucher der hellen Räume ein Traum bleiben wird.

„Die Kunst der Beratung liegt darin, sie nicht enttäuscht gehen zu lassen, sondern ihnen Perspektiven in Tunesien aufzuzeigen“, erklärt die Leiterin. Um die jungen Tunesier von der Flucht abzuhalten, hat das Entwicklungshilfeministerium 2017 zusätzlich noch einmal 13,5 Millionen Euro bereitgestellt.

Mitarbeiter des Migrationszentrums helfen

Das Zentrum hilft bei der Jobvermittlung, Umschulungen und Fortbildungen. Und kümmert sich um Rückkehrer aus Deutschland wie Walid Trifi. Der Vater einer kleinen Tochter hatte mit seiner Frau ein Touristenvisum für Italien erhalten. Doch er hatte nie vor, sich das Kolosseum oder den Canale Grande anzusehen. Er kam allein mit dem Zug aus Italien nach Deutschland, lebte in Hamburg. Bei einer Kontrolle gab er sich als Palästinenser aus Libyen aus, „weil ich meinen tunesischen Akzent erklären musste“ und beantragte Asyl.

Walid Trifi ging freiwillig zurück nach Tunesien.
Walid Trifi ging freiwillig zurück nach Tunesien. © Thomas Imo/photothek.net | Thomas Imo/photothek.net

Es dauerte Monate bis ihm die Behörden auf die Schliche kamen, und er wusste, dass er abgeschoben werden sollte. „Ich hatte ein Seil am Balkon meines Zimmers im dritten Stock angebunden, damit ich abhauen konnte, wenn die Polizei kommt.“ Walid Trifi ist freiwillig zurückgegangen. „Es ist schwer, illegal in Deutschland zu leben, und meine Familie hat mir gefehlt“, gesteht er und blickt aus dem Fenster auf das Häusermeer von Tunis. Ohne seine Frau und das gemeinsame Kind wäre er vielleicht aber geblieben, sagt er.

Nun helfen ihm die Mitarbeiter des deutschen Migrationszentrums, in Tunis eine neue Existenz aufzubauen. Etwa 5000 Euro kostet die Kreditberatung, Aus- und Weiterbildung des 37-Jährigen, der zurzeit Taxi fährt und bald in mit Hilfe aus Europa in Tunis ein Cafe eröffnen will. Es fehlt noch an vielem, aber einen Namen hat er schon: Reeperbahn.

Bundesregierung investierte 150 Millionen Euro

Walid Trifi ist einer von gerade einmal 20 tunesischen Rückkehrern, die in Zusammenarbeit mit einer französischen Organisation betreut werden. „Wir haben ja erst angefangen“, sagt die Zentrumsleiterin zu den niedrigen Zahlen. Seit März 2017 läuft die Rückkehr-Programm der Bundesregierung. Es gibt ein Ticket nach Hause, Geld und Sachleistungen und soll Migranten aus allen Ländern ermuntern, Deutschland freiwillig zu verlassen, wenn sie keine Chance auf ein Bleiberecht haben und abgeschoben werden müssten.

150 Millionen Euro hat die Bundesregierung 2017 dafür für mehrere Länder bereitgestellt. Jetzt wurde das Programm auf 500 Millionen aufgestockt. „Das ist deutlich günstiger, als wenn man die Menschen abzuschieben“, erklärt Türer-Strzelczyk. Doch von mehr als 1400 ausreisepflichtigen Tunesiern haben erst 45 die Hilfe in Anspruch genommen.

Die Ausbildungswerkstatt des Textilunternehmens Sartex.
Die Ausbildungswerkstatt des Textilunternehmens Sartex. © Thomas Imo/photothek.net | Thomas Imo/photothek.net

Den Menschen, die ins Zentrum kommen, versuchen die Berater zu zeigen, dass sie ihr Leben gar nicht riskieren müssen, um eine Arbeit irgendwo in Europa zu finden. In Tunesien gibt es 145.000 freie Stellen. Viele Arbeitslose bringen jedoch nicht die nötige Qualifikation mit. Deshalb engagiert sich die deutsche Entwicklungshilfe besonders in der Aus- und Weiterbildung. Oft fehlt nur ein Kurs oder eine Umschulung, um die Tunesier, deren Bildungsniveau in der Region zu den höchsten zählt, auf die richtige Bahn zu bringen.

Rapper besingen gutes Leben in Europa

Das Textilunternehmen Sartex, das teure Markenjeans produziert und auch nach Deutschland exportiert, hat mit Unterstützung der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) ein modernes Ausbildungszentrum eingerichtet. Es liegt hinter einer hohen Mauer nahe des Küstenortes Monastir. Wer hier geschult wird, hat auch gleich eine Arbeit in der Textilfabrik. Für 500 Dinar im Monat (etwa 170 Euro) nähen die Frauen und Männer Hosen, die sie sich nie leisten könnten.

Doch Salem Fadhloun ist zufrieden. Zweimal hat er Schlepper bezahlt, umgerechnet knapp 900 Euro, damit sie ihn per Schiff nach Italien bringen. Beide Male stoppte ihn die tunesische Polizei an der Küste. „Das letzte Mal war es sehr knapp, aber ich konnte ihnen entwischen“, erzählt der 25-Jährige. Illegale Ausreise steht in Tunesien unter Strafe. Fadloun ist der älteste von vier Kindern, hat die Schule abgebrochen.

„Meine Eltern hatten das Geld für die Bücher nicht mehr. Was sollte ich denn machen?“, fragt er achselzuckend. Freunde schicken Videos von erfolgreichen Überfahrten über das Meer, Heimkehrer protzen mit Geld und dicken Autos, Rapper besingen das gute Leben in Europa, auch wenn mal illegal dort lebt. „Ich wollte es wenigstens versuchen“, sagt Fadhloun.

Warnungen vor den Booten nach Europa

Salem Fadhloun (l) und Haifa Sassi (r.) in der Werkstatt des Textilunternehmens Sartex.
Salem Fadhloun (l) und Haifa Sassi (r.) in der Werkstatt des Textilunternehmens Sartex. © Thomas Imo/photothek.net | Thomas Imo/photothek.net

Ein Freund machte hin nach den vergeblichen Fluchtversuchen darauf aufmerksam, dass Sartex nicht nur Mitarbeiter sucht, sondern auch zwei Jahre lang so gut ausbildet, wie wenige andere Firmen in Tunesien. Er spezialisierte sich auf Stickerei und lernte in der Fabrik seine Frau kennen. Beide haben gerade ein Baby bekommen. Statt von Europa zu träumen, freuen sie sich auf die eigene Wohnung, in die sie bald ziehen werden.

Mit seiner eigenen Geschichte versucht Salem Fadhloun, Freunde und Bekannte davon abzuhalten, ein Boot nach Europa zu besteigen. „Zwei habe ich schon zu Sartex gebracht. Die anderen sind so auf diese Idee fixiert, dass nichts zu machen ist“, sagt er. Das Meer, das Tunesien von Europa trennt, ist in seiner Fabrikhalle nur von seiner freundlichen Seite zu sehen.

Auf allen Fenstern kleben Fotofolien mit Strandbildern und türkisfarbenem Wasser. Nur eines ist einen Spalt geöffnet und lässt einen Blick auf das staubig-graue Industriegebiet zu, das für Salem Fadhloun und seine Frau die Zukunft bedeutet.