Brüssel. Eine neue EU-Studie hat die Folgen des Brexit kalkuliert. 41 von 50 besonders betroffenen EU-Industrieregionen liegen in Deutschland.

In knapp einem Jahr ist Schluss: Am 29. März 2019 um 23 Uhr wird Großbritannien die Europäische Union verlassen. Die EU-Spitzen beklagen den absehbaren Verlust eines wichtigen Mitglieds und Nettozahlers, den Schaden soll nach offizieller Brüsseler Lesart allerdings vor allem das Vereinigte Königreich selbst tragen. Doch ein Jahr vor dem Brexit wächst auch auf dem Kontinent die Sorge vor den Folgen für die Wirtschaft.

Besonders deutsche Unternehmensverbände drängen zunehmend ungeduldig auf Klarheit über die künftigen Handelsbedingungen. Die Mahnungen sind nur allzu berechtigt, wie sich jetzt zeigt: Denn vom Brexit sind große Teile Deutschlands wahrscheinlich wirtschaftlich deutlich stärker betroffen als fast alle anderen EU-Mitgliedsländer.

So stark ist die regionale Wirtschaft betroffen

Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Europäischen Ausschusses der Regionen, die unserer Redaktion vorliegt. Danach liegen im produzierenden Gewerbe, in Industrie und Handwerk von 50 besonders betroffenen europäischen Regionen 41 in Deutschland – die fast das gesamte Bundesgebiet abdecken. Die Bundesländer Hamburg und Berlin, die Bezirke Düsseldorf mit dem westlichen Ruhrgebiet, Köln und Darmstadt werden demnach besonders die Folgen des Brexit spüren.

Der Anteil der regionalen Wirtschaftsleistung im produzierenden Gewerbe, der den Folgen des Brexit ausgesetzt ist, liegt dort zwischen 16,2 Prozent (Darmstadt) und 17,5 Prozent (Hamburg.) Berlin liegt bei 17,2 Prozent, Köln bei 16,8 Prozent. In den übrigen aufgeführten Regionen Deutschlands beträgt der Anteil zwischen zwölf und 16 Prozent. So gibt die Studie für den Bezirk Arnsberg mit dem östlichen Ruhrgebiet den vom Brexit betroffenen Anteil an der industriellen Wirtschaftsleistung mit 14,5 Prozent an, für Thüringen mit 13,6 Prozent und die Region Braunschweig mit 14 Prozent.

Stärker als Deutschland leidet nur Irland

Nach Irland als dem direkten Nachbarn Großbritanniens sei Deutschland das am stärksten vom Brexit betroffene Mitgliedsland der EU, heißt es in der Studie. In deutlichem Abstand folgen Malta sowie einzelne Regionen der Niederlande und Belgiens. Innerhalb Europas müssten einige Regionen deutlich höhere Anpassungslasten tragen als andere, bilanziert die Studie.

In Deutschland ist die Exportwirtschaft besonders stark in Branchen, die den EU-Austritt der Briten vorrangig zu spüren bekommen könnten: Autoindustrie, Chemie, Konsumgüterproduktion und andere Industriezweige.

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    EU-Länder haben beim Brexit unterschiedliche Prioritäten

    Die Studie wirft ein grelles Licht auf die bevorstehenden Probleme der EU bei den Brexit-Verhandlungen: Offenkundig sind die Interessen der 27 EU-Staaten bei der Ausgestaltung der künftigen Beziehungen zu Großbritannien höchst unterschiedlich – die exportorientierte Industrienation Deutschland hat ganz andere Prioritäten als etwa Polen, das vor allem die Freizügigkeit für seine Landsleute auf der Insel sichern will, oder die Niederlande, die ihren Fischern den Zugang zu britischen Gewässern erhalten möchte. „Jede Regierung will natürlich für ihre Wirtschaft den Status quo der Beziehungen erhalten“, sagt ein EU-Diplomat. „Das kann kaum funktionieren.“

    Die Bundesregierung hat deshalb intern wiederholt vor einem Auseinanderdriften der EU-Länder gewarnt – und auch schon dafür gesorgt, dass die Brüsseler Leitlinien für die Verhandlungen nicht allzu detailliert ausfallen, solange die Gegenseite in London ihre eigenen Vorstellungen nicht offenlegt.

    Handelsabkommen mit minimalen Zöllen gefordert

    Der Ausschuss der Regionen, die Vertretung von Kommunen und regionalen Gebietskörperschaften auf EU-Ebene, versteht seine Untersuchung auch als Weckruf. Ausschuss-Präsident Karl-Heinz Lambertz warnt: „Ohne ein Handelsabkommen, das die Zölle auf ein Minimum beschränkt und weiterhin einen reibungslosen Warenverkehr ermöglicht, könnte der Brexit die lokale und regionale Wirtschaft belasten.“ Notwendig sei eine „umfassende Überprüfung der möglichen regionalen Auswirkungen“ des Brexit, sagte Lambertz dieser Zeitung.

    Auch mithilfe der regionalen Investitionspolitik der EU müsse alles getan werden, um die Auswirkungen auf kommunale und regionale Wirtschaftsräume zu minimieren. Die Studie, in die auch eine Umfrage unter europäischen Handels- und Industriekammern eingeflossen ist, verweist indes auch auf ein anderes Problem: Weniger als ein Drittel der Regionen hat bislang Maßnahmen ergriffen, um sich auf den Austritt Großbritanniens aus der EU vorzubereiten – für umfassende Vorkehrungen fehlt es an Klarheit über die künftigen Handelsbedingungen, die britische Seite hat ihre Vorstellungen trotz vieler Aufforderungen aus Brüssel noch immer nicht präzisiert.

    Konkrete Brexit-Folgen schwer abzuschätzen

    Die Folgen des Brexit seien ein „kaum kalkulierbares Risiko“, sagt deshalb der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. Eine Umfrage der Organisation unter 2100 Unternehmen kam vor wenigen Wochen zu dem Ergebnis, dass jedes zweite Unternehmen die konkreten Auswirkungen auf das eigene Geschäft noch nicht abschätzen könne. Klar ist indes, dass die deutschen Exporte in diesem Jahr weiter zurückgehen werden; 2017 ist Großbritannien bereits von Platz drei auf Platz fünf der wichtigsten Handelspartner Deutschlands abgerutscht.

    Nicht nur Schweitzer appelliert jetzt vor allem an die Briten, aber auch an die EU, möglichst bald wenigstens verlässliche Orientierungspunkte für die zukünftigen Beziehungen zu liefern. Auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) mahnt: „Unsere Unternehmen brauchen Verlässlichkeit.“ Noch hofft die Wirtschaft auf eine Zollunion mit zoll- und quotenfreiem Handel. Doch Experten in der zuständigen Brexit-Taskforce der EU-Kommission dämpfen die Erwartungen.

    Großbritannien sucht schon 5000 Zollbeamte

    Selbst wenn bei einem Freihandelsabkommen Produkte zollfrei blieben, seien zumindest stichprobenartige Kontrollen notwendig: „Zollkontrollen werden kommen“, heißt es in der Taskforce. Die britische Regierung lasse in der Hafenstadt Dover am Ärmelkanal schon weitläufige Parkplätze für die Grenzabfertigung bauen und suche 5000 Zollbeamte. „Beim Brexit verlieren alle“, sagt ein Taskforce-Beamter, „nur Anwälte und Berater gewinnen.“