North Ridgeville. Vor 50 Jahren ermordeten US-Soldaten im vietnamesischen My Lai 504 Menschen. Ron Haeberles Fotos veränderten den Blick auf den Krieg.

Die Geschichte von Ron und Duc fängt so an: Was haben ein Schlosser-Meister im Bergischen Land, ein Armee-Veteran aus einem kleinen Kaff im US-Bundesstaat Ohio und eine Fotokamera gemeinsam?

Die Antwort lautet: My Lai.

Am 16. März 1968, es war ein feuchtheißer Tag mit strahlend blauem Himmel, löschte eine Sondereinheit der US-Armee in dem kleinen vietnamesischen Dorf 504 Menschenleben aus. Frauen, Männer, Greise, Kinder, Säuglinge. Alle aus nächster Nähe mit Maschinengewehren liquidiert. Oder verstümmelt, vergewaltigt, erstochen, verbrannt. Nur wenige überlebten.

Eines der abscheulichsten Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg

50 Jahre nach dem Massaker treffen sich am Freitag und Samstag bei den Gedenkfeiern am Schicksalsort 800 Kilometer nördlich von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, zwei Männer, die erst aus verschiedenen Blickwinkeln Augenzeugen eines der abscheulichsten Kriegsverbrechen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden – und viele Jahre danach enge Freunde.

Ronald „Ron“ Haeberle beginnt seine Reise an den Ort des Grauens gemeinsam mit Tochter Nicole und Enkelin Sidney (12) in North Ridgeville nahe Cleveland. Duc Tran Van startet mit Vien (25), dem ältesten seiner drei Söhne, in Remscheid. Der Grund ist einfach, aber zwingend.

Ohne Haeberles Fotos wären die Gräueltaten länger vertuscht worden

© ddp images/United Archives | United Archives

Ohne die Fotos des Armee-Fotografen Haeberle wären die Gräueltaten noch länger vertuscht worden. Ohne die Fotos wüsste Duc Tran Van nicht zu beglaubigen, wer er ist und was damals mit ihm geschah. Genug Gründe, um mit beiden zu sprechen. Über My Lai. Und wie die Tragödie ihr Leben geformt hat.

Seit die Knie nicht mehr so richtig wollen, ist Ron Haeberle vom geliebten Fahrrad ins Kajak umgestiegen. In seinem geräumigen wie aufgeräumten Haus mit Doppelgarage, das am Ende einer Sackgasse liegt, stapeln sich Ruder- und Pilatesgeräte. „Ich bin kein Couch Potato, ich brauche immer Bewegung“, sagt der 76-jährige Single, der entschieden jünger aussieht, und setzt Kaffee für den Gast auf. „Siemens“, sagt der Nachfahre deutscher Einwanderer aus dem Schwarzwald und zeigt auf die Filtermaschine: „Ich mag deutsche Qualität.“

Charlie Company soll den Feind suchen und töten

Was er zu erzählen hat, schlägt mit einer Wucht auf den Magen, als wäre es erst gestern passiert. Am Morgen des 16. März 1968 sind Haeberle, der erst vier Monate zuvor in Vietnam angekommen ist, und der Reporter Jay Roberts als Front-Chronisten eingesetzt. Die Charlie Company unter Kommando von Captain Ernest „Mad Dog“ Medina und Lieutenant William „Rusty“ Calley ist geschickt worden, um den Vietcong zu suchen und zu töten. Search and destroy. „Wir sollten das für die Armee-Zeitung ‚Stars & Stripes‘ dokumentieren“, sagt Haeberle.

Kurz nach der Landung in My Lai kommen dem 27-Jährigen Zweifel. Nirgends ist, wie in den Briefings vorher angekündigt war, der Feind zu sehen. Aber jede Menge Zivilisten, die meisten sind Reisbauern. Warum dann das Maschinengewehr-Feuer?

„Ich wusste, hier wird kaltblütig gemordet“

Ron Haeberle und Duc Tran Van, der das Massaker von My Lai überlebte.
Ron Haeberle und Duc Tran Van, der das Massaker von My Lai überlebte. © privat | privat

Aus „höchstens zwei Meter“ Entfernung beobachtet Haeberle, wie eine Frau erschossen wird. Ein Soldat reitet wie im Wahn einen Wasserbüffel und sticht mit dem Bajonett auf das Tier ein. Ein anderer GI erschießt ein Mädchen. „Sie war vier, vielleicht fünf.“ „Warum?“, schreit Haeberle den Mörder in Uniform an: gegenseitiges Anstarren. Nasenspitze an Nasenspitze. Kein Wort. Dann geht jeder seiner Wege.

Wie hält man das aus, ohne irre zu werden? Haeberle spricht von einem „irrealen Ausnahmezustand“, in dem er „funktioniert“ habe. Selbst als die Killer, seine eigenen Kameraden, Mittagspause machen, erledigt der Fotograf seine Arbeit. Heute bilanziert er: „Ich wusste, hier läuft etwas völlig aus dem Ruder, hier wird kaltblütig gemordet. Aber ich wäre wohl nicht mehr am Leben, wenn ich versucht hätte, das zu stoppen.“

Männer werden zu Monstern, skalpieren ihre Opfer

Drei Stunden lang muss Ron Haeberle im Schlachthaus My Lai ausharren. Er sieht mit an, wie Männer zu Monstern werden, die ihre Opfer skalpieren. Und er drückt, ohne dass er auch nur einmal gefragt oder gestört wird, auf den Auslöser. Rund 80-mal.

Die Dienst-Leica mit den Schwarz-Weiß-Aufnahmen gibt Haeberle nach dem Einsatz ab. Nach seiner privaten Nikon, in der ein Farbfilm steckt, wird er erst 20 Monate später gefragt. In dem Moment, als ein Aufschrei der Empörung um die Welt geht.

Keine zwei Wochen nach My Lai ist der Militärdienst für Haeberle vorbei. Er fährt zu einem Onkel an die US-Westküste nahe Seattle. „Sechs Stunden lang habe ich auf den Puget Sound geguckt, dann war ich wieder okay im Kopf.“ Bis heute habe er keinen einzigen Albtraum gehabt, sagt Haeberle und streckt wie so oft beim Erzählen unbewusst die Hände über den Kopf. Sie formen ein Dach. Als wollte er sich vor einer niedersausenden Axt schützen.

„Ich hatte Beweise für ein Kriegsverbrechen, das alle vertuscht haben“

Zurück in seiner Heimat im Nordosten Ohios beginnt Haeberle im Frühsommer 1968 die Kriegsberichterstattung zu wurmen: „Diese Lobeshymnen. Ich wusste, das war gelogen.“ In Schulen und Clubs wie Rotary und Kiwanis zeigt er Dia-Shows. Vorwiegend schöne Bilder. „Wie wir beim Volleyball gegen die Vietnamesen verlieren. Absichtlich.“ Um die Reaktionen des Publikums zu testen, mischt er einige Schock-Aufnahmen aus My Lai bei. „Es herrschte Totenstille.“ Nachfragen? „So gut wie keine.“ Nur einmal wird er verdächtigt, „das Zeug wohl aus Hollywood beschafft zu haben“.

Dann alarmierte der Soldat Ron Ridenhour, der von einem Kameraden von den Vorgängen in My Lai gehört hatte, Gott und die Welt. Die Tragödie zieht Kreise. Als im Sommer 1969 schließlich ein Fahnder der Armee aufkreuzt, reißt Haeberle der Geduldsfaden. Er erfährt von Verrohungen in My Lai, „von denen ich damals nichts wusste: vergewaltigte Kinder und Teenager“. Über den Reporter Joe Eszterhas stellt er Kontakt zur größten Zeitung im Umkreis her. Haeberle will jene 20 Farbfotos an die Öffentlichkeit bringen, die er an den Militärzensoren vorbeigeschleust hat. „Ich hatte Beweise für ein Kriegsverbrechen, das alle vertuscht haben“, sagt er und hält einen Moment inne, „bis hinauf zu den Generälen.“

Amerikanische Soldaten als Babykiller – das ist zu viel für die USA

Der „Plain Dealer“ in Cleveland druckt die Fotos. Am 20. November 1969, eine Woche nachdem der bis dahin unbekannte Enthüllungsreporter Seymour Hersh den ersten Bericht über My Lai geschrieben hat, macht sich Amerika zum ersten Mal ein ungefiltertes Bild vom Albtraum in Fernost.

Amerikanische Soldaten als Babykiller? Das ist zu viel für ein Land, das gerade den Bürgerrechtler Martin Luther King und den Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy durch Attentate verloren hat. Schockwellen überziehen die USA. Sie spülen das Bild vom heroischen GI als Befreier Vietnams vom Kommunismus endgültig hinfort. „Ich war genauso mitschuldig“, sagt Haeberle mit ruhiger Stimme, „aber das war mein stiller Protest gegen den Krieg.“

Erst viele Jahre später wird bekannt: My Lai war eine Sünde unter vielen. In seinem Buch „Tötet alles, was sich bewegt“, weist Nick Turse nach: Es gab Dutzende Massaker dieser Art.

Wie lebt ein Mörder von damals heute, was denkt er?

Bestraft wird kaum jemand. So auch im Fall William Calley. 1971 wird er von einem Militärgericht zu lebenslanger Haft wegen Mordes in 22 Fällen verurteilt. Schon bald wird seine Strafe in Hausarrest umgewandelt. Später begnadigt ihn Präsident Richard Nixon. Jimmy Carter, damals Gouverneur von Georgia, nimmt Calley als „Sündenbock“ in Schutz. Der entschuldigt sich 2009 in dürren Worten zum ersten und bisher letzten Mal für My Lai. „Calley redet auch mit ehemaligen Soldaten nur, wenn sie vorher 20.000 Dollar überweisen“, sagt Ron Haeberle, „auch darum hatte ich nie Verlangen nach Kontakt.“

Für Duc Tran Van, der am Telefon sehr emotional werden kann, sieht das anders aus. Identität ist sein Thema. Und historische Genauigkeit. „Ich habe keinen Hass mehr. Aber ich würde gerne wissen, wie ein Mörder von damals heute lebt und was er denkt“, sagt der 56-Jährige unserer Redaktion. Er hat William Calley geschrieben. Erfolglos.

Im Museum von My Lai entdeckte Duc Tran Van schon Ende der 70er-Jahre „sehr viele Fehler“. Falsche Namen. Vor allem unter diesen beiden Bildern: ein Feldweg. Darauf zu sehen ist ein kleiner Junge, der sich mit seinem Körper schützend über ein Baby beugt. Es zeigt Duc mit seiner damals 14 Monate alten Schwester Tran Thi Ha. Das zweite Bild ist so entsetzlich, dass es bis heute so gut wie nie gedruckt wird: eine junge Frau mit aufgeplatztem Schädel. Bäuchlings verdreht im Reisfeld.

Es ist Ducs Mutter.

Es sind die Fotos von Ron Haeberle.

Beim Treffen in My Lai fließen Tränen

Weil die Museumsleitung in My Lai sie nicht für authentisch hält, nimmt Duc, der 40 Jahre mit niemandem über seine Familie gesprochen hat, Kontakt auf mit dem Mann in Amerika. Ron Haeberle ist, wie er sagt, „berührt und sofort hilfsbereit“. Als sie sich 2011 zum ersten Mal in Cleveland und kurz danach in My Lai treffen, fließen Tränen. Haeberle bezeugt die Urheberschaft der Fotos und bestätigt vor den örtlichen Autoritäten, was 1968 geschehen ist. „Er ist der letzte Mensch, der meine Mutti gesehen hat, bevor sie erschossen wurde“, sagt Duc Tran Van, „er ist der einzige Zeuge für das, was mir und meiner Familie passiert ist.“

Als die Soldaten der Charlie Company nach My Lai kommen, ist Ducs Vater 30 Kilometer weit entfernt in einem anderen Dorf. Als sie abziehen, sind zwei von vier Schwestern (11 und 5) und seine Mutter (31) tot. Ein Jahr später stirbt auch der Vater. Duc und eine Schwester wachsen bei der armen Großmutter auf. In der Schule fällt er durch Fleiß auf. Dadurch öffnet sich die Tür ins Ausland: DDR.

1983 kommt Duc in Cottbus an. Er lernt sechs Monate lang Deutsch, geht dann im sächsischen Mittweida zur Berufsschule. Nach der Wende verschlägt es ihn 1991 nach Wuppertal. Heute arbeitet er als Schlosser-Meister in der Weberei Krauskopf und lebt mit Frau und drei Söhnen (25, 21, 14) in Remscheid.

„Ich spüre keine Wut mehr auf Amerika“

Seinem Besuch zum 50. Jahrestag des Massakers von My Lai sieht Duc Tran Van mit Anspannung entgegen. „Es tut immer noch sehr weh. Aber ich spüre keine Wut mehr auf Amerika.“

Stolz erzählt er von seinen Treffen mit Lawrence Colburn. Der vor zwei Jahren gestorbene Veteran war einer von zwei MG-Schützen in dem Hubschrauber von Hugh Thompson. Der US-Pilot landete in der Endphase des Massakers in My Lai, flog 13 schwer verletzte Vietnamesen aus und wies seine „Gunner“ an, die eigenen Soldaten in Schach zu halten und notfalls auf sie zu schießen. Duc Tran Van: „Colburn hat Leben gerettet, das werde ich nie vergessen.“

Auch Ron Haeberle hat seinen Anteil. Er schenkte Duc die alte Nikon-Kamera, mit der er die Bilder von ihm, seiner Schwester und seiner sterbenden Mutter aufgenommen hatte. Sie steht heute in Remscheid auf einem kleinen Altar neben Kerzen und Bildern der Menschen, die in My Lai starben.

Die Originale bewahrt Ron Haeberle an einem sicheren Ort auf. Über die Wirkung ist sich der Chronist des Grauens sehr bewusst: „Mit diesen Bildern habe ich dazu beigetragen, dass der Rückhalt für den Krieg in Amerika sank.“ Für den 50. Jahrestag hat Ron Haeberle nur einen Wunsch: „Ich möchte neben den Überlebenden sitzen.“