Berlin. Nach mehr als 160 Tagen des Zauderns, Zögerns, Taktierens muss nun endlich regiert werden. Kevin Kühnert verdient dennoch Respekt.

Die Briefe sind eingeworfen, die Hochleistungsschlitzmaschinen stehen bereit. Am Sonntagfrüh um neun wächst dem SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan eine große Bedeutung zu. Er wird als Chef der Mandatsprüfungs- und Zählkommission den Ausgang des SPD-Mitgliedervotums bekannt geben. Es entscheidet darüber, ob Union und SPD erneut in eine große Koalition starten.

Hoffentlich! Hoffentlich ist es ein Auftrag für eine Koalitionsregierung, hinter der die Mehrheit des Parlaments steht. Eine Mehrheit, die am 14. März eine Regierungschefin wählt. Nach mehr als 160 Tagen des Zauderns, Zögerns, Taktierens, Paktierens, Lamentierens und Pokerns muss diese Regierungsbildung endlich ein Ende haben.

Selbst der oft zu Recht gescholtene, aber zumindest politikbegeisterte Berliner Betrieb ist des Wartens müde. Empathie für das Politische an sich haben die letzten Wochen und Monate nicht gebracht. „Ich bin total erschöpft“, seufzt ein hochrangiger GroKo-Verhandler. Die Bürger sind es auch. Und wollen keinen Wahlkampf mehr, in dem es um befristete Verträge, Familiennachzug oder eine Bürgerversicherung geht. Oder um andere deutsche Befindlichkeiten. Nicht in diesen Tagen, in denen der US-Präsident einen Handelskrieg anzettelt, der russische Präsident mit Atomwaffen prahlt und der syrische Bürgerkrieg erneut eskaliert.

Kühnert verdient Respekt

Richtig, es braucht Erneuerung und neue Programmatik, nicht nur in der SPD, auch in der Union. Das hat der letzte Wahlkampf mitsamt Ergebnis der Volksparteien bei der Bundestagswahl deutlich gemacht. Nehmen die Parteien die Sorgen und Zweifel im Land nicht auf, erstarken Kräfte, welche die Demokratie zum Griff nach der Macht zwar brauchen, ihre Prinzipien dann aber bekämpfen.

Diese zehn Punkte wollen Union und SPD verwirklichen

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    Der unermüdliche „No GroKo“-Kämpfer Kevin Kühnert verdient Respekt. Der Juso-Vorsitzende hat in eindrucksvoller Manier und leidenschaftlich für seine Sache gekämpft. Doch inhaltlich überzeugende Argumente hat er nicht geliefert. Nur gegen etwas zu sein, hat noch nie ausgereicht; schon gar nicht in der Politik. Kühnerts Sehnsucht nach linken Projekten, mehr Gerechtigkeit, auch um Wähler von der AfD zurückzugewinnen, ist ein legitimer Wunsch eines jungen Politikers.

    SPD hat Chance, neuen Stil zu finden

    Doch die Kritik, es gebe über 100 Kommissionen und Prüfaufträge im Koalitionsvertrag, viel Vertagung und Kompromiss und keine konkreten Maßnahmen gegen die ungleiche Vermö-gensverteilung, ist absurd. Genau hier Abhilfe zu schaffen für die eigenen Wähler, das ist die Aufgabe der SPD in der Regierung. Auf den Oppositionsbänken mag es bequem sein. Politik gestaltet wird von dort aus nicht, ganz egal wie ambitioniert die SPD ihre Rolle auch angehen würde.

    Die Sozialdemokraten hätten in Regierungsverantwortung die Chance, mit neuem Personal an der Spitze die vergangenen desaströsen Wochen unter Martin Schulz vergessen zu machen. Einen neuen Stil zu finden, auch in der Ansprache der Basis und der Wähler. Und dabei nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

    Gleichzeitig braucht es aber die besten Köpfe beider Parteien in der Regierung, ob jung, alt, erfahren, tatendurstig, ehrgeizig, umtriebig oder effizient. Es braucht Ressortchefs, die nicht mehr nur wie in den vergangenen fünf Monaten geschäftsmäßig den Stillstand verwalten, sondern danach streben, das Leben der Menschen in Deutschland zu verbessern. Die „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“ lautet der Amtseid für Kanzler und Kabinett. Zeit, dass ihn wieder jemand spricht.