Berlin. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind im Netz unterwegs. Experten warnen zunehmend vor dem Suchtpotenzial von sozialen Netzwerken.

Der erste Griff morgens geht zum Smartphone, abends vor dem Schlafen fällt der letzte Blick auf den Bildschirm und auch zwischendurch ist das Handy nie weit: Viele Eltern würden die WhatsApp- und Snapchat-Gewohnheiten ihrer Kinder wohl als suchtähnlich bezeichnen. Allzu weit weg von der Wahrheit wären sie dabei nicht. Denn tatsächlich: Social Media kann Kinder und Jugendliche süchtig machen, das bestätigt eine Studie im Auftrag der Krankenkasse DAK, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Bislang ist der Anteil der Minderjährigen, die ihre Online-Gewohnheiten nicht mehr unter Kontrolle haben, allerdings gering.

1001 Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren haben die Forscher gefragt, wie intensiv sie in sozialen Netzwerken unterwegs sind. Deutlich wurde dabei: Für die meisten Schüler sind WhatsApp, Instagram und andere nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. 85 Prozent der Befragten gaben an, an jedem Tag der Woche soziale Medien zu nutzen, weitere acht Prozent öffnen die entsprechenden Apps an fünf bis sechs Tagen pro Woche. Im Schnitt verbringen die Teenager zweidreiviertel Stunden pro Tag am Computer, Tablet oder Smartphone, bei knapp einem Viertel sind es sogar vier Stunden oder mehr. Dazu kommen durchschnittlich 78 Minuten am Tag, die Jugendliche mit der Video-Plattform Youtube verbringen.

Suchtbeauftragte fordert mehr Medienbildung

Unangefochtener Spitzenreiter unter den Anbietern war dabei WhatsApp: Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen verbringen nach eigener Aussage die meiste Zeit mit dem Nachrichten-Dienst. 14 Prozent sagten dasselbe über Instagram und fast jeder Zehnte über Snapchat. Bei mehr als einem Fünftel haben diese Gewohnheiten schon zu Problemen im realen Leben geführt: 22 Prozent der Jugendlichen berichteten, wegen sozialer Medien manchmal bis häufig Streit mit ihren Eltern gehabt zu haben. Fast ein Viertel sah im Smartphone einen Grund für zu wenig Schlaf. Und 26 Prozent der Befragten gaben an, mit der Hälfte oder sogar noch mehr ihrer Freunde ausschließlich online in Kontakt zu sein.

Intensive Social-Media-Nutzung an sich ist nicht problematisch, betonte Andreas Storm, DAK-Vorstandsvorsitzender. „Diese Kommunikationswege sind grundsätzlich ein Gewinn“, sagte er. „Problematisch wird es, wenn die Balance zwischen der Kommunikation in der realen Welt und in der digitalen Welt aus den Fugen gerät.“ Das geschieht dann, wenn Jugendliche ihren Konsum nicht mehr selbst regulieren können und eine suchtartige Beziehung zu den Netzwerken aufbauen. Rund 2,6 Prozent der Befragten attestiert Rainer Thomasius eine „Social-Media-Störung“ . Der Kinder- und Jugendpsychiater leitet das Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und hat die Studie mitentwickelt.

Viele Jugendliche haben problematisches Nutzungsverhalten

Orientiert haben er und seine Kollegen sich dabei an den Kriterien, nach denen eine Internetspielstörung festgestellt wird – denn eine eigenständige Diagnose ist Social-Media-Sucht nicht. Die Forscher stuften die Nutzung der Netzwerke bei den Jugendlichen als problematisch ein, bei denen sich bekannte Muster von Suchterkrankungen abzeichnen: Dazu gehören Entzugserscheinungen – wie Ärger, Traurigkeit oder Unruhe, wenn der Zugang verwehrt wird –, das Belügen von Freunden und Familienmitgliedern über den tatsächlichen Konsum und die Flucht in die digitale Welt, um negative Gefühle zu bewältigen. Legt ein Junge oder ein Mädchen fünf von neun solcher Verhaltensweisen an den Tag, gehen die Forscher um Thomasius von einer „Social-Media-Störung“ aus.

Auffällig ist dabei, dass unter den Jugendlichen, die ein problematisches Nutzungsverhalten entwickelt haben, Depressionen deutlich weiter verbreitet sind als unter ihren Altersgenossen, die weniger online sind. Mehr als ein Drittel derer, denen die Forscher eine Störung bescheinigten, berichtet über Symptome von Depressionen. Unter allen deutschen Jugendlichen zwischen zwölf und 17 liegt dieser Anteil bei 8,2 Prozent.

Wichtigkeit von Präventionsarbeit

Unklar ist, ob exzessive Nutzung sozialer Netzwerke Depression hervorruft oder ob Jugendliche mit entsprechenden Krankheitsbildern mehr dazu neigen, online Bestätigung und Kontakt zu suchen. „Der Weg geht wohl in beide Richtungen“, erklärt Thomasius.

DAK-Chef Storm betonte die Wichtigkeit von Präventionsarbeit. „Unsere Chance liegt darin, dass wir frühzeitig gegensteuern können, bevor aus den 2,6 Prozent mehr werden“, erklärte er.

Marlene Mortler, Bundes-Drogenbeauftragte, appellierte an die nächste Regierung, das Problem ernst zu nehmen. „Ich fordere eine Medienerziehung, die es in sich hat“, sagte die CSU-Politikerin. Es reiche nicht, Milliarden in die Hand zu nehmen, erklärte sie – mit Blick auf den im Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbarten Digital­pakt – und jedem Kind ein Tablet in die Hand zu drücken. Lehrer müssten in die Lage versetzt werden, Kinder für den Umgang mit sozialen Medien „fit zu machen“, sagte Mortler.