Berlin. Die designierte SPD-Vorsitzende Andrea Nahles über den Mitgliederentscheid ihrer Partei zur großen Koalition – und ihre Kabinettsliste.

Noch drei Tage, dann wird bekannt, wie die SPD-Mitglieder über die große Koalition abgestimmt haben. Für Andrea Nahles, die Fraktionschefin und designierte Parteivorsitzende, hängt besonders viel davon ab.

Frau Nahles, ganz Europa schaut auf die SPD: Bringen 460.000 Parteimitglieder die Kanzlerin zu Fall?

Andrea Nahles: Die SPD-Mitglieder sind sich ihrer Verantwortung sehr bewusst. Ich bin im ganzen Land unterwegs und treffe Genossinnen und Genossen, denen klar ist, dass es nicht nur um die SPD geht. Deutschland und Europa brauchen eine stabile Regierung in Berlin. Der Koalitionsvertrag beinhaltet eine Menge guter Politik, die unser Land voranbringen und das Leben der Menschen konkret besser machen wird. Ich bin optimistisch, dass die Mehrheit dem zustimmt.

Ist der Mitgliederentscheid auch eine Abstimmung über Sie als künftige Parteivorsitzende?

Nahles: Ich verbinde mein Schicksal nicht damit. Das wäre eine latente Drohung, diese Zeiten sind vorbei. Das Mitgliedervotum entscheidet über die Frage, ob wir in eine Regierung eintreten. Wenn das Votum scheitern sollte, müssen wir alle zusammen sehr tapfer sein. Aber meine Instinkte sagen mir, dass es gut ausgehen wird.

Nahles: Habe keinen Plan B

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    Würde es andernfalls Neuwahlen geben?

    Nahles: Ja, früher oder später.

    Warum verraten Sie Ihren Mitgliedern nicht, wer für die SPD ins Kabinett soll?

    Nahles: Weil man das Fell des Bären nicht verteilen kann, bevor der Bär erlegt ist, wie es so schön heißt. Wir warten den Ausgang des Mitgliedervotums ab. Ich habe ein paar Überlegungen, aber wir haben noch keine fertige Liste.

    Stört es Sie, dass Frau Merkel mit ihrer Ministerriege vorgeprescht ist?

    Nahles: Das war eine Flucht nach vorn und entstand aus einem gewissen Druck innerhalb der Union, wie ich das einschätze. Wir halten das für einen Vorgriff und lassen uns dadurch nicht von unserem Weg abbringen.

    Wann also kommt Ihre Liste?

    Nahles: Am Sonntag werden wir das Ergebnis des Mitgliedervotums erfahren. Wenn die Mitglieder uns einen Regierungsauftrag erteilen, folgt die Festlegung über das Personal dann einige Tage später.

    Soll es ein Kabinett der Besten oder ein Kabinett der Bequemsten werden, für das Loyalität zu Ihnen und zum kommissarischen Parteichef Olaf Scholz den Ausschlag gibt?

    Nahles: Wer für die SPD ins Kabinett will, muss kompetent sein und den Koalitionsvertrag umsetzen können. Die paritätisch besetzte Kabinettsriege muss als Team funktionieren. Wir brauchen Ministerinnen und Minister, die erfolgreich miteinander arbeiten.

    Soll Teamfähigkeit ein Ausschlusskriterium für den populären Außenminister Sigmar Gabriel sein?

    Nahles: Es gibt noch keine Festlegung, daher scheidet momentan überhaupt niemand aus. Sigmar Gabriel macht seine Arbeit gut, keine Frage. Aber auch die anderen Kabinettsmitglieder – Heiko Maas, Katarina Barley und Barbara Hendricks – leisten gute Arbeit. Alle sind gespannt wie ein Flitzebogen, wie es weitergeht. Aber wir alle müssen uns jetzt noch bis Sonntag ein wenig gedulden.

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      Welche Rolle kann Juso-Chef Kevin Kühnert spielen, der die GroKo-Gegner anführt?

      Nahles: Er hat doch bereits die Rolle eines geachteten Bundesvorsitzenden der Jusos inne. Ich bin selber Juso-Chefin gewesen, da kann man was draus machen! (lacht)

      Halten Sie eigentlich Kontakt zu Martin Schulz?

      Nahles: Ja, regelmäßig und freundschaftlich. Martin Schulz kuriert sich aus, er hat eine verschleppte Grippe. Wir waren ja alle krank nach den Koalitionsverhandlungen.

      Wie kann sich Schulz als ehemaliger Parteichef und einfacher Abgeordneter bei der Erneuerung der SPD einbringen?

      Nahles: Darüber reden wir.

      Muss die SPD linker werden, um aus der Krise zu finden?

      Nahles: Die SPD wird sich erneuern – organisatorisch, personell und inhaltlich. Wir müssen Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit finden, wir wollen wieder kampagnenfähig werden und ein Ort spannender Zukunftsdebatten sein – selbstbewusst und fortschrittlich als führende Mitte-links-Partei.

      Wollen Sie das Verhältnis zur Linkspartei entkrampfen?

      Nahles: Es gibt keine Verkrampfung gegenüber der Linkspartei, es gibt vielmehr eine Sackgasse. Sigmar Gabriel und ich haben 2009 die Gesprächsverbote und Tabuisierungen weggeräumt. Aber man muss sich doch nur die letzte Parteitagsrede von Sahra Wagenknecht anhören. Die wenigen, aber zentralen Unterschiede insbesondere in der Außenpolitik werden weiter einbetoniert.

      Die Linke muss also auf die SPD zugehen?

      Nahles: Über viele Jahre sind wir keinen Millimeter weitergekommen. Joschka Fischer hatte es im Kreuz, die Grünen regierungsfähig zu machen. Ich bin gespannt, wer in den nächsten Jahren in der Linkspartei die Kraft zu einem solchen Schritt hat.

      Die Union setzt verstärkt auf das Thema Heimat. Eine verpasste Chance für die SPD?

      Nahles: Ich habe ein sehr entspanntes Verhältnis zu dem Thema. Ich lebe und liebe Heimat. Ich komme vom Land, aus einer Ecke, wo es weder schnelles Internet noch überall heile Straßen gibt. Die Idee eines Heimatministeriums im besten Sinne des Wortes stammt von Martin Schulz – und ich halte viel davon. Die Zuständigkeit wurde dann allerdings nach langen Verhandlungen schließlich im Innenministerium angedockt.

      Wie wird sich das anfühlen, die erste Frau an der Spitze der ältesten deutschen Partei zu sein?

      Nahles: Das ist schon sehr erstaunlich für mich und meine Familie. Ich bin die Tochter eines Maurers aus der Eifel. Wenn ich zur SPD-Vorsitzenden gewählt werde, ist das eine große Ehre. Trotz der Arbeit und Mühe, die vor mir liegen, nehme ich die Herausforderung gerne an – mit allem Respekt und Demut. Ich freue mich und bin gut vorbereitet, weil mich viele gute Leute begleiten. Das funktioniert nur als Team.

      Eine wachsende Zahl von Regionalpolitikern will Sie bei der Wahl zum Parteichef herausfordern. Irritiert Sie das?

      Nahles: Jedes Mitglied kann sich bewerben. Dass es gerade jetzt so viele sind wie noch nie, wo sich zum ersten Mal in der 154-jährigen SPD-Geschichte eine Frau in einer schwierigen Lage um das Amt bewirbt, ist interessant. Aber ich glaube, da steckt etwas anderes dahinter: Die gesamte Parteiführung hat in den letzten Wochen nicht immer das beste Bild abgegeben. Da haben sich dann einige zu Kandidaturen berufen gefühlt – das ist Demokratie.

      „Bätschi“, „In die Fresse“ – Sie formulieren gerne sehr direkt. Müssen Sie als Parteichefin vorsichtiger, staatstragender werden?

      Nahles: Wer Andrea Nahles bestellt, bekommt Andrea Nahles. Ich kann mich da nicht verstellen.

      Martin Schulz hat sich damit gerühmt, wie oft er vom französischen Präsidenten angerufen wurde. Hat Emmanuel Macron inzwischen auch bei Ihnen angeklingelt?

      Nahles: Nein, bisher nicht.