Berlin/Hamburg. In Berlin, Hamburg oder Bayern gelten unterschiedliche Vorschriften für Polizei und Justiz. Das Bundesinnenministerium ist alarmiert.
Am frühen Abend brennen Barrikaden in der Hamburger Innenstadt. Autonome und Randalierer werfen Steine in Richtung Polizei, die Beamten setzen Wasserwerfer ein. Doch die Einheiten bekommen die Lage nicht unter Kontrolle. In der Sternschanze fürchten sie einen Hinterhalt. Erst nach einiger Zeit rückt das Sondereinsatzkommando mit Maschinenpistolen an. Es ist einer der Momente während des G20-Gipfels im vergangenen Sommer in Hamburg, in dem die Gewalt auf der Straße eskaliert.
Mehr als 30.000 Polizisten sind in diesen Tagen im Einsatz, um das umstrittene Treffen der Staatschefs zu schützen. Die Beamtinnen und Beamten kommen aus allen Bundesländern. Sie alle stehen unter dem Kommando der Hamburger Polizeiführung, sie alle machen an diesem Wochenende mehr oder weniger denselben Job. Doch was Helme, Kennzeichen und Uniformen nicht verraten: Die Polizisten verdienen dafür unterschiedlich viel. Bundesbeamten bekommen zwischen 400 und 500 Euro mehr im Monat als Polizisten aus Berlin. Das geht aus Gehaltstabellen der Gewerkschaft der Polizei hervor.
Jedes Bundesland macht es anders
Und nicht nur das: Auch die Spezialtruppen sind ganz unterschiedlich ausgerüstet – je nach Bundesland mit anderer Qualität und Anzahl an Waffen und gepanzerten Fahrzeugen. Der Hamburger Einsatzleiter Hartmut Dudde bilanziert ein gutes halbes Jahr nach dem G20-Einsatz zur deutschen Sicherheitsarchitektur: „Jedes Land macht, was es will, bloß nichts zusammen.“
Noch etwas wissen wenige. Vor einem Großeinsatz wie in Hamburg klären Einsatzleiter der Hundertschaften ihre Leute über die Rechtslage auf: Wie stark darf der Staat schon vor Demonstrationen kontrollieren? Wann dürfen Videos von Protesten aufgenommen werden? Wie wird das Vermummungsverbot geahndet? Denn: In Deutschland kennen Polizisten aus ihrem Alltag ganz verschiedene Gesetzeslagen – je nach Bundesland, in dem sie arbeiten. Arbeiten Münchner Beamte in Kiel, gelten andere Regeln für ihren Einsatz.
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Bayern etwa erlaubt etwa die Schleierfahnung zur anlasslosen Kontrolle von Personen und Fahrzeugen, sowie die Fußfessel für sogenannte „Gefährder“, also Extremisten, die eine Gewalttat planen könnten. Gesetze in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein dulden Schleierfahndung nicht, in anderen Bundesländern dürfen Fahrzeuge nur in Augenschein genommen aber nicht durchsucht werden.
Polizisten in ganz Deutschland können Personen in Gewahrsam nehmen, präventiv, sofern die Beamten eine erhebliche Straftat vermuten und verhindern wollen. Nur: In Bayern kann die Polizei in Ausnahmefällen Menschen bis zu drei Monate die Freiheit entziehen, ohne dass sie eine Straftat begangen haben. In Niedersachsen und Hamburg bis zu zehn Tage, in Nordrhein-Westfalen maximal 48 Stunden.
Im Alltag schafft das Gesetzespuzzle Unsicherheit
So wie im Verkehr. Wer im Auto von Flensburg nach Passau fährt, durchquert mehrere Bundesländer. Die Regeln sind überall gleich, jeder weiß, was gilt. Doch bei Polizei und Justiz ist das nicht der Fall. Jedes Bundesland hat sein eigenes Polizeigesetz, jede Justiz regelt Verfahren etwa in der Bewährungshilfe oder bei der Datensicherung von Straftätern unterschiedlich. Manche Sicherheitsexperten und Polizeigewerkschafter warnen: Dieser Föderalismus schafft nicht nur Ungleichheit zwischen den Beamten, er ist auch ein Risiko. Im Bundesinnenministerium heißt es auf Nachfrage dieser Redaktion: „Das Sicherheitsniveau in den Bundesländern ist sehr unterschiedlich“
Die Mordserie des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und der islamistische Terroranschlag in Berlin zeigen, wie gefährlich es ist, wenn Polizisten, Verfassungsschützer und Staatsanwälte ihre Informationen nicht austauschen oder sich sogar gegenseitig bei der Arbeit behindern. Wenn ein Beamte in Thüringen nicht weiß, was seine Kollegin in Sachsen plant. Wenn Mittel und Maßnahmen der Behörden ganz unterschiedlich sind. Bis heute steht die Frage im Raum, ob der Föderalismus mitverantwortlich war, dass keine Behörde die mutmaßlichen Mörder des NSU entlarvt hat. Dass der Berlin-Anschlag nicht verhindert werden konnte.
Unsicherheit für Bürger ist die Folge
Und doch: In einigen Kommentaren ufert das Bedrohungsszenario durch den Föderalismus aus. Zumal: Straftaten und Strafmaß sind in Gesetzbüchern geregelt, bundesweit, für alle. Kein Polizist muss auf seine Dienstwaffe verzichten, weil das Geld fehlt. Wer einen anderen Menschen verprügelt, muss mit einem Ermittlungsverfahren rechnen – egal ob in Schleswig-Holstein oder Hessen. Bundesgerichte geben zudem mit Urteilen Maßstäbe vor, klären bundesweit Rechtslagen.
Im Alltag aber schafft das Gesetzespuzzle Unsicherheit für Bürger – und Hürden für Ermittler. Beispiel: Demonstrationsrecht. Wer sich bei einem Protest in Hamburg mit einem Schal vermummt, begeht eine Straftat. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein eine mildere Ordnungswidrigkeit wie beim Falschparken. Manche vermummen sich und machen Krawalle. Andere wollen nur nicht erkannt werden. Doch sie müssen aufpassen, in welchem Bundesland sie demonstrieren.
Bayern scannt Nummernschilder – Bremen nicht
Und die Zeit, die Beamte vor jedem Großeinsatz für das Lernen der Gesetzeslage in Anspruch genommen werde, könne besser genutzt werden, sagt Oliver Malchow von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Deshalb will Malchow die Polizeigesetze in Deutschland vereinheitlichen.
Beispiel: automatischer Kennzeichenabgleich. In Bayern scannen Geräte an Autobahnen jedes Jahr Millionen Kennzeichen von Fahrzeugen. Tauchen die Nummernschilder nicht in den Fahndungsdateien der Polizei auf, werden die Daten gelöscht. Doch in Bremen, Rheinland-Pfalz und NRW wird nicht gescannt, kein Gesetz regelt diese Maßnahme. Landet Bayern einen Treffer, kann ein Fahrzeug in Westdeutschland nicht weiter verfolgt werden.
Beispiel: finaler Rettungsschuss. Wann darf ein Polizist einen Menschen töten, um das Leben eines anderen Menschen zu schützen? Für Bürger eine abseitige Frage, aber Beamte beschäftige dies, sagt Gewerkschafter Malchow. Vor allem in Berlin, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern – denn dort sei diese extreme Situation nicht im Polizeigesetz geregelt.
BKA soll zum „zentralen Datenhaus“ aufgebaut werden
Sicherheitsexperten heben vor allem die Gefahr durch den Wildwuchs an Computerprogrammen bei der Datenverarbeitung hervor. Von einem „IT-Flickenteppich“ spricht Emanuel Schmidt von der Deutschen Justiz-Gewerkschaft. Nicht nur Bundesländer, sogar einzelne Kommunen verwenden oft unterschiedliche Software zur Bearbeitung der Fälle. So müssten sich Bewährungshelfer Akten zu entlassenen Straftätern erst mühsam aus einem anderen Bundesland zukommen lassen, wenn sie einen Fall übernehmen, berichtet Schmidt. Das gilt auch für die Polizei: Die Hamburger Dienststellen nutzen die veraltete Datenbank „Crime“, die Münchner „rsCase“. Die Programme sind inkompatibel. Trägt ein Beamter im Norden eine Straftat in die Datenbank ein, ist sie im Fall-System im Süden nicht zu finden.
Seit Jahren bewegt sich wenig
All diese Probleme sind nicht neu. All das wollen Bundespolitiker ändern. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) schlug sogar vor, die Landesämter für Verfassungsschutz in ein Bundesamt einzugliedern. Auch die Innenexpertin der Grünen, Irene Mihalic, fordert einen Inlandsgeheimdienst statt 16 Landesämter.
Nur: Seit Jahren bewegt sich wenig – einige Landesbehörden basteln fleißig weiter an eigenen IT-Programmen. Auch weil starke Regierungen in Bayern oder Nordrhein-Westfalen auf Eigenständigkeit pochen. Sie verteidigen den Föderalismus und verweisen auf Frankreich, wo auch ein Zentralstaat Terroranschläge nicht verhindern kann.
Zudem schreibt in Deutschland das Grundgesetz die Gliederung des Staates in Länder vor. Das hat historische Gründe: In der NS-Diktatur regierte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) mit Allmacht und Willkür in einem zentralistischen Einheitsstaat.
Daten aller Kriminalfälle in einem gemeinsamen IT-Verbund
Dieser deutsche Föderalismus wurde in den vergangenen Jahren – etwa in der Steuerpolitik – allerdings immer weiter zurückgeschraubt. Der internationale Terrorismus, die Mordserie des NSU, aber auch über Grenzen hinaus agierende Kriminelle erhöhen nun den Druck auf Bund und Länder, auf diese globalen Bedrohungen mit einer neuen Sicherheitsarchitektur zu reagieren.
Im neuen Koalitionsvertrag von Union und SPD hält die mögliche Regierung in spe fest, sie wolle das BKA zum „zentralen Datenhaus“ aufbauen – aus Daten nicht mehr einzeln in den Ländern sammeln und auswerten, sondern im Bundesamt. Mit einem „gemeinsamen Investitionsfonds“ will der Bund die IT-System der deutschen Polizei ausrüsten.
Schon länger steht ein anderer Plan: Ein neues Musterpolizeigesetz soll Leitfaden für einheitliche Gesetze der Länderpolizeien sein, die Arbeit daran dauert an. Im Bundeskriminalamt arbeitet seit mehr als einem Jahr ein Stab zudem an dem Programm „Polizei 2020“, mit dem das BKA Daten aller Kriminalfälle in einem gemeinsamen IT-Verbund sammeln soll. Angestrebt sind 70 Beamte, die diese Strategie jetzt entwickeln sollen. Derzeit, so teilt das Innenministerium auf Nachfrage mit, sind 30 Stellen besetzt.