Moskau/Berlin. Russland feiert an diesem Freitag den 75. Jahrestag des Siegs über die Wehrmacht. Auf den Stalin-Mythos folgt jetzt der Putin-Kult.

Vor einer Moskauer Kneipe stehen ein paar Männer im Schnee. Sie haben einige Halblitergläser Bier geleert. Ein gedrungener Enddreißiger umarmt einen deutschen Touristen, den er gerade kennengelernt hat. „Alter, das ist doch klasse, dass wir Russen euch Deutsche schlagen!“, sagt er und lacht. „Wie schlagen?“, fragt der Deutsche staunend. „Na, totschlagen!“, entgegnet der Russe. Dabei strahlt er den Deutschen an und klopft mit seinen großen Händen auf dessen Schultern.

Eine Szene kurz vor dem mit Brimborium gefeierten Jahrestag des Sieges von Stalingrad. In fast allen Fernsehkanälen wimmelt es derzeit von Sendungen über den Zweiten Weltkrieg. Heute begeht Russland den 75. Jahrestag des „Kessels von Stalingrad“. Am 2. Februar 1943 kapitulierten die Reste der 6. deutschen Armee. Das Gefecht mit fast einer Million Toten gilt als Anfang vom Ende Hitler-Deutschlands. Russland feiert den Sieg jedes Jahr als Heldenakt im „großen vaterländischen Krieg“.

Doch dieses Jahr sind die Feierlichkeiten noch pompöser. Es herrscht Präsidentschaftswahlkampf, am 18. März wird der neue – und sehr wahrscheinlich alte – Kremlchef gewählt. Staatschef Wladimir Putin reist heute persönlich nach Wolgograd, das frühere Stalingrad.

Heftige Stalin-Debatte entbrannt

Die Vergangenheit ist in Russland wieder lebendig. Vor einigen Tagen annullierte das Kulturministerium die Kino-Lizenz für die britisch-französische Filmkomödie „Der Tod Stalins“. Der – vor schwarzem Humor triefende – Film überschreite die sittliche Grenze zur Geschichtsverhöhnung, erklärte Minister Wladimir Medinski. Wer zeige, wie der tote Stalin in einer Urinlache liege, missachte auch die Opfer des Stalin-Terrors, schimpfte der Kino-Regisseur Karen Schachnasarow.

In der Öffentlichkeit ist eine heftige Stalin-Debatte entbrannt. Sie gipfelte vorerst im Studio von Radio Komsomolskaja Prawda: Dort schickte der Publizist Maxim Schewtschenko seinen Kollegen Michail Swanidse vor laufenden Kameras mit mehreren Faustschlägen zu Boden, nachdem Swanidse Stalins Verdienste am Sieg über Deutschland bestritten hatte.

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada betrachten zwar nur 25 Prozent der Russen Stalins Repressionen als „historisch gerechtfertigte Notwendigkeit“. Aber immerhin 38 Prozent der Bevölkerung halten Stalin für die „herausragendste Persönlichkeit der Weltgeschichte“, gefolgt von Wladimir Putin mit 34 Prozent. Die Russen mögen autokratische Führungsfiguren.

Russlands schlechte Erfahrungen mit dem Kapitalismus

Der Stellenwert der Demokratie rangiert hingegen weit hinten. Nach mehr als 70 Jahren Sowjetunion lernte das Land in den 90er-Jahren nur eine Karikatur des Kapitalismus kennen: Die Ersparnisse einfacher Leute lösten sich in Luft auf, korrupte Minister schoben Gaunern riesige Ölfelder zu, die Alkoholorgien des Präsidenten Boris Jelzin waren berüchtigt. Die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch an, die sozialen Leistungen wurden weggefegt.

1999 trat Jelzin zurück, und Wladimir Putin kam. Der ehemalige Geheimdienst-Mann zeigte sofort klare Kante, demonstrierte Stärke. Die Tonlage war auf einmal rabiat. Man müsse „die tschetschenischen Terroristen im Klo ersäufen“, kündigte Putin an. Ein populistischer Staatschef, aber einer mit Fortune: Der Ölpreis kletterte nach oben, die öffentlichen Kassen verzeichneten satte Einnahmen, das Bruttosozialprodukt stieg. Millionen Russen sahen unter Putin, dass man sich Ikea-Möbel, Audi-Limousinen oder einen Pauschalurlaub in der Türkei leisten kann.

Russen sind wieder stolz auf ihr Land

Dieser Trend hat sich bis heute verstärkt. Die alte Größe, der Weltmacht-Status – egal ob der Einsatz der Luftwaffe in Syrien oder die „Heimholung“ der Krim –, der Umgang auf Augenhöhe mit Amerika: Die Russen sind wieder stolz auf ihr Land. Putin, der den Zusammenbruch der UdSSR einmal als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hatte, hat sein Land in den Augen der Bevölkerung rehabilitiert.

Und der Präsident tut alles, um das Hochgefühl weiter zu befeuern. Er attestiert seinen Landsleuten ein „Sieger-Gen“. Kinofilme, TV-Serien und Geschichtsbücher feiern die Überlegenheit „russischer Krieger“, vom mittelalterlichen Fürsten und Nationalhelden Alexander Newski bis hin zur sowjetischen Eishockey-Nationalmannschaft.

Wladimir Putin beim rituellen Eisbad

Der russische Präsident Wladimir Putin begibt sich mutig am Seligersee in Svetlitsa (Russland) in der Nähe des Nilow-Klosters in ein Eisloch. Heute sind in Russland wieder Hunderttausende Menschen im Eiswasser untergetaucht, um das kirchliche Fest der Taufe Jesu zu feiern.
Der russische Präsident Wladimir Putin begibt sich mutig am Seligersee in Svetlitsa (Russland) in der Nähe des Nilow-Klosters in ein Eisloch. Heute sind in Russland wieder Hunderttausende Menschen im Eiswasser untergetaucht, um das kirchliche Fest der Taufe Jesu zu feiern. © dpa | Alexei Druzhinin
Mit einem Schaffellmantel und passenden Stiefeln geht es für den Präsidenten am Morgen in Richtung Eisbad.
Mit einem Schaffellmantel und passenden Stiefeln geht es für den Präsidenten am Morgen in Richtung Eisbad. © dpa | Alexei Druzhinin
Mit nackter gestählter Brust bekreuzigt sich Putin im Eiswasser.
Mit nackter gestählter Brust bekreuzigt sich Putin im Eiswasser. © dpa | Alexei Druzhinin
Und auch dieser Herr nimmt an dem traditionellem Eisbad bei einer ungefähren Außentemperatur von minus 40 Grad Celsius teil.
Und auch dieser Herr nimmt an dem traditionellem Eisbad bei einer ungefähren Außentemperatur von minus 40 Grad Celsius teil. © REUTERS | ILYA NAYMUSHIN
Mit dem Sprung in Teiche, Flüsse oder eigens aufgestellte Becken erinnern Gläubige zum orthodoxen Dreikönigstag (Epiphanias) am 19. Januar an die Taufe Jesu. Dieser Gläubige nutzt die ukrainische Flagge als Segel, um in Kiew (Ukraine) ins Wasser zu springen.
Mit dem Sprung in Teiche, Flüsse oder eigens aufgestellte Becken erinnern Gläubige zum orthodoxen Dreikönigstag (Epiphanias) am 19. Januar an die Taufe Jesu. Dieser Gläubige nutzt die ukrainische Flagge als Segel, um in Kiew (Ukraine) ins Wasser zu springen. © REUTERS | VALENTYN OGIRENKO
Priester führen durch die Zeremonie.
Priester führen durch die Zeremonie. © REUTERS | ILYA NAYMUSHIN
Russisch-orthodoxe Gläubige waschen sich bei den traditionellen Eisbädern symbolisch von ihren Sünden rein. Das von Geistlichen gesegnete Wasser soll Geist und Seele läutern.
Russisch-orthodoxe Gläubige waschen sich bei den traditionellen Eisbädern symbolisch von ihren Sünden rein. Das von Geistlichen gesegnete Wasser soll Geist und Seele läutern. © REUTERS | ILYA NAYMUSHIN
Der 19. Januar ist einer der höchsten Feiertage der russisch-orthodoxen Kirche.
Der 19. Januar ist einer der höchsten Feiertage der russisch-orthodoxen Kirche. © REUTERS | ILYA NAYMUSHIN
Die niedrigen Temperaturen halten augenscheinlich nicht von dem Ritual ab.
Die niedrigen Temperaturen halten augenscheinlich nicht von dem Ritual ab. © REUTERS | VALENTYN OGIRENKO
Die Eisbäder haben vielerorts die Form eines Kreuzes.
Die Eisbäder haben vielerorts die Form eines Kreuzes. © REUTERS | VALENTYN OGIRENKO
Das Eisbad gehört zu den beliebtesten und zugleich extremsten orthodoxen Traditionen.
Das Eisbad gehört zu den beliebtesten und zugleich extremsten orthodoxen Traditionen. © REUTERS | MAXIM SHEMETOV
Schnell raus aus dem eisigen Wasser – denken sich wohl diese drei Frauen in Kiew.
Schnell raus aus dem eisigen Wasser – denken sich wohl diese drei Frauen in Kiew. © REUTERS | VALENTYN OGIRENKO
An diesen Tagen im Januar wird es für gewöhnlich immer frostiger. Der extreme Temperatursturz wird auch „Epiphanias-Frost“ genannt.
An diesen Tagen im Januar wird es für gewöhnlich immer frostiger. Der extreme Temperatursturz wird auch „Epiphanias-Frost“ genannt. © REUTERS | ILYA NAYMUSHIN
Im russischen Novosibirsk geht es für diesen jungen Mann nur mit Schlappen und Badehose ins eisige Wasser.
Im russischen Novosibirsk geht es für diesen jungen Mann nur mit Schlappen und Badehose ins eisige Wasser. © dpa | Ilnar Salakhiev
Ein russischer orthodoxer Gläubiger bekreuzigt sich.
Ein russischer orthodoxer Gläubiger bekreuzigt sich. © dpa | Dmitri Lovetsky
Starke Szenerie auch im russischen Tyarlevo.
Starke Szenerie auch im russischen Tyarlevo. © dpa | Dmitri Lovetsky
Vor dem Spektakel war Eishacken angesagt.
Vor dem Spektakel war Eishacken angesagt. © REUTERS | ILYA NAYMUSHIN
1/17

Stalins Mythos setzt sich im Kult um Putin fort

Der Höhepunkt allen nationalen Heldentums ist der siegreiche Kampf gegen Nazi-Deutschland. Inzwischen betrachtet man sich als einzig wirklichen Gegner Hitlers. Die Russen, die in fast jeder Familie Kriegstote zu beklagen hatten, glauben das gern. So wie sie den Generalissimus Josef Stalin verehren, der Hitler in ihren Augen überlistete, Sowjetrussland zur Atommacht machte, vor dem auch die USA zitterten. Stalins Mythos setzt sich im Kult um Putin fort. Um den schart sich heute ja ebenfalls das Volk, um einer feindlichen Welt zu trotzen.

Seine Beliebtheitswerte: um die 80 Prozent. Die penetrante und schmeichelhafte Propaganda vom russischen Heldenvolk kommt an. Die Russen lachen über neue Witze. „Merkel sagt zu Putin: ‚Ich finde es nicht gut, dass ihr eure Parade zum Tag des Sieges dieses Jahr in Sewastopol auf der Krim veranstaltet.‘ Worauf Putin antwortet: ‚Gut, nächstes Jahr findet sie in Berlin statt.‘“ Deftiger Humor, der vom Streben nach Dominanz unterfüttert ist.