Berlin. Bildung, Arbeitsmarkt, Mütterrente – dem Sozialverband VdK gehen die bisherigen Vereinbarungen der Koalitionäre noch nicht weit genug.

Ulrike Mascher weiß, wie es geht. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK kennt das politische Geschäft aus nächster Nähe. Für die SPD saß Mascher lange Jahre im Bundestag. Die Rentenreformen von Arbeitsminister Walter Riester (SPD) hat sie aus nächster Nähe als Parlamentarische Staatssekretärin in dessen Ministerium begleitet. Seit zehn Jahren führt sie nun einen der mächtigsten Sozialverbände und kämpft für die Interessen von Rentnern.

Mascher, 79 Jahre alt, weiß deshalb, dass gerade die wohl wichtigste politische Woche begonnen hat. Wenn Union und SPD in den nächsten Tagen noch einmal über das Rentenniveau, über die Mütterrente und über die Krankenversicherung verhandeln, dann entscheidet sich die Sozialpolitik der nächsten Jahre. Bis zum nächsten Wochenende muss sie versuchen, ihre Wünsche im geplanten Koalitionsvertrag zu platzieren. Was dann nicht in dem Text enthalten ist, dürfte nur noch schwer ins Gesetzblatt kommen.

DGB will „deutlich mehr Anstrengungen“

Europa, Digitalisierung, Flüchtlingspolitik – das alles ist den Koalitionären wichtig. Ein großer Schwerpunkt des Vertrags aber liegt klar auf der Sozialpolitik. Wirtschaftsverbände haben bereits Bedenken angemeldet. Sie befürchten höhere Kosten und weniger Flexibilität, etwa durch mögliche Einschränkungen bei befristeten Arbeitsverträgen.

Sozialverbänden dagegen wie dem VdK von Ulrike Mascher geht das bisher von Union und SPD Beschlossene noch nicht weit genug. Die Gewerkschaften zum Beispiel nennen das 28 Seiten starke Ergebnis der Sondierungen nur eine „gute Grundlage“ für weitere Verhandlungen.

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    DGB-Chef Reiner Hoffmann sagte, er erwarte „deutlich mehr Anstrengungen“ der künftigen Koalitionäre, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Dazu zählt er mehr Investitionen in der Bildungspolitik, Änderungen im Arbeitsrecht wie eine leichtere Rückkehr aus Teilzeitarbeit in Vollzeit sowie mehr Engagement, um die Bindung von Unternehmen an Tarifverträge zu erhöhen.

    Kritik an Gesundheitswesen

    Auch SPD-Mitglied Mascher meint, ihre Partei müsse in den Verhandlungen mit der Union noch „deutlich nachbessern“. Mit den bisher beschlossenen Plänen könne die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht überwunden werden. Positiv sei, dass sich beide Seiten darauf geeinigt hätten, dass Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Rentner wieder jeweils die Hälfte des Krankenkassenbeitrags zahlen sollen. „Das ist ein richtig guter Punkt“, so Mascher. „Damit werden die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen gleichmäßig auf alle Schultern verteilt.“

    Weniger gut kommt bei ihr an, dass CDU und CSU bisher alle Schritte hin zu einer Angleichung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung blockieren. „Ärzte dürfen aus der Behandlung von Privatpatienten keine finanziellen Vorteile mehr ziehen“, sagt Mascher. „Sie dürfen keine Anreize haben, Kassenpatienten nicht zu behandeln oder länger warten zu lassen.“

    Mehr Termine für Kassenpatienten

    Es sei dringend notwendig, dass Ärzte sowohl von den gesetzlichen als auch von den privaten Krankenversicherungen das identische Honorar für eine bestimmte Behandlung bekämen. Die Gesamtsumme, die beide Versicherungszweige für Ärzte ausgeben, müsse aber gleich bleiben. „Das Geld muss anders als heute verteilt werden“, fordert die VdK-Chefin. Mit anderen Worten: Ärzte sollen weniger Honorar für Privatbehandlungen erhalten.

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      Wie das konkret funktionieren soll, ist unklar, denn private Versicherungen kennen keine Honorarobergrenze. Mit Genugtuung nehmen Mascher und die Vertreter von anderen Sozialverbänden aber zur Kenntnis, dass die Union inzwischen bereit ist, über eine bessere Versorgung von Kassenpatienten zu sprechen. Sie sollen schneller Termine bei Fachärzten bekommen.

      Das Thema, das die VdK-Chefin und ihre Rentner aber am meisten umtreibt, ist die Mütterrente. Das warmherzig klingende Schlagwort bezeichnet die bessere Anerkennung von Erziehungszeiten für Kinder: Lange Jahre bekamen Mütter, deren Nachwuchs vor 1992 geboren wurde, nur ein Erziehungsjahr für ihre Rente angerechnet. Seit 2014 sind es zwei Jahre. Mascher will nun erreichen, dass es drei Jahre sind. Drei Jahre bekommen auch Frauen angerechnet, die nach 1992 Mutter geworden sind.

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      Das Problem: Die Mütterrente ist teuer. Jedes Jahr nachträglich angerechnete Erziehungszeit kostet etwa sieben Milliarden Euro. Im vergangenen Koalitionsvertrag – damals ging es ums zweite Erziehungsjahr – hatten Union und SPD das Geld großzügig bereitgestellt. Nun wollen sie sparsamer sein. Das dritte Jahr Mütterrente sollen nur Frauen bekommen, die drei und mehr Kinder vor 1992 bekommen haben. Das sei „zutiefst ungerecht“, empört sich Ulrike Mascher. Es könne nicht Mütter erster und zweiter Klasse geben. „Sollte das wirklich so bleiben, dann werden Union und SPD richtig Ärger bekommen“, droht sie. „Das dritte Jahr muss für alle Mütter kommen. Das Geld dafür ist da.“

      Mascher legt Wert darauf, dass die zusätzliche Leistung, die pro Kind und Monat eine um rund 30 Euro höhere Rente bewirken würde, aus Steuergeld bezahlt werden soll und nicht aus der Rentenkasse. Kindererziehung sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die 21 Milliarden Euro pro Jahr, die für alle drei Jahre Mütterrente fällig wären, könnten ohne Probleme aus dem Bundeshaushalt bezahlt werden. „Das Geld kann bei den Rüstungsausgaben oder an anderer Stelle gekürzt werden“, glaubt die VdK-Chefin. Es sei eine Investition gegen Altersarmut. Mehr als 300.000 Frauen bekämen aktuell so wenig Rente, dass sie auf die staatliche Grundsicherung angewiesen seien. Die Mütterrente – das dürfte die Nagelprobe für die große Koalition werden.

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        Die Gewerkschaften sind zwar grundsätzlich dafür, aber sie kämpfen nicht mit der Vehemenz dafür, wie Mascher es tut. Der DGB blickt über die Interessen von Rentnern hinaus. Bildung, Digitalisierung und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind den Gewerk-schaften wichtig. Dass die Union an der „schwarzen Null“, also einem Haushalt ohne neue Schulden festhält, kann der für Finanzpolitik zuständige DGB-Vorstand Stefan Körzell nicht verstehen. Das sei „nicht zielführend“, sagt er.

        Körzell meint, Unternehmer und Vermögende müssten höhere Steuern als heute zahlen. Die Vermögensteuer müsse wiedereingeführt und die Abgeltungsteuer eingeführt werden – der DGB liegt damit weitgehend auf der Linie der SPD. Es müsse auch mehr Geld ausgegeben werden für bezahlbaren Wohnraum. Überhaupt müsse sich die Koalition noch mehr um eine funktionierende Mietpreisbremse und um realistische Mietspiegel und Wohngelderhöhungen kümmern.

        Während Wirtschaftsverbände loben, dass die neue Regierung keine neuen Schulden machen und die Sozialausgaben möglichst gering halten will, reagieren die Sozialverbände zurückhaltend. Weder der DGB noch der VdK unterstützen das Ziel, die Summe der Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent vom Bruttolohn zu halten. Das sei eine dogmatische Marke und durch nichts zu rechtfertigen, sagt Ulrike Mascher und meint: „Auch 42 Prozent wären verkraftbar.“ Wichtiger sei, dass Union und SPD den „Sinkflug bei den Renten aufhalten“.