Ankara. Abdullah Gül und Recep Tayyip Erdogan waren einst politische Freunde. Bald könnten sie bei Wahlen zu ernsthaften Konkurrenten werden.

Sie waren einst enge politische Freunde. Gemeinsam gründeten Recep Tayyip Erdogan und Abdullah Gül 2001 die islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Aber jetzt trennen sich ihre Wege. Gül übt offen Kritik am zunehmend autoritären Kurs des Staatschefs. Manche sehen ihn bereits als Herausforderer Erdogans bei der nächsten Präsidentenwahl.

Bisher verstanden es die beiden Politiker, ihre seit Jahren wachsenden Spannungen herunterzuspielen. Aber jetzt kam es zum offenen Bruch. Anlass ist das Ende Dezember von Erdogan unterzeichnete Notstandsdekret 696. Es bestimmt in Artikel 121, dass Personen, die an der Niederschlagung des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 beteiligt waren, strafrechtlich nicht belangt werden dürfen, selbst wenn sie etwa Putschisten gelyncht haben, wie es in jener Nacht vorkam.

Freibrief für Mord an Regierungsgegnern?

Die Straffreiheit bezieht sich nicht nur auf die Putschnacht, sondern auch auf „folgende Ereignisse“. Kritiker sehen darin einen Freibrief für bewaffnete Milizen oder Todesschwadronen, die gegen Regierungsgegner vorgehen könnten.

Auch Gül äußerte sich besorgt. Das Dekret sei „vage formuliert“ und „rechtsstaatlich besorgniserregend“, kritisierte er auf Twitter. Er hoffe auf eine Überarbeitung. Erdogans Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Du solltest dich schämen“, rief der Staatschef bei einer Parteiversammlung in der Schwarzmeerprovinz Düzce dem abwesenden Gül zu. „Waren wir nicht Freunde für eine gemeinsame Sache?“

Offen ausgetragener Streit

Erdogan nannte Gül einen „Störenfried“. Doch der konterte: Er werde als Verfechter der Meinungsfreiheit, die zu den Grundprinzipien der AKP gehöre, seine Meinung sagen, wenn er es für nötig halte.

Der damaliger türkische Premierminister Erdogan (rechts) und der damalige Außenminister Gül bei einer Parteiveranstaltung im Jahr 2007.]
Der damaliger türkische Premierminister Erdogan (rechts) und der damalige Außenminister Gül bei einer Parteiveranstaltung im Jahr 2007.] © picture-alliance/ dpa | dpa Picture-Alliance / epa

Seit diesem öffentlichen Schlagabtausch ist klar: Die Wege der beiden Männer haben sich getrennt. Es ist eine erstaunliche Entfremdung. Denn es gab Zeiten, da spielten sich Gül und Erdogan perfekt die Bälle zu. 2001 verließen sie die vom Verbot bedrohte Tugendpartei des islamistischen Eiferers Necmettin Erbakan und gründeten die gemäßigt auftretende AKP. Quasi aus dem Stand heraus gewann die neue Partei bei der Wahl vom November 2002 mit gut 34 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit im neuen Parlament.

Gül trat sein Amt an Erdogan ab

Weil Erdogan damals infolge eines Politikverbots wegen „islamischer Hetze“ nicht ins Parlament gewählt werden konnte, fungierte Gül zunächst als Ministerpräsident. Als das Parlament 2003 den Polit-Bann aufhob und Erdogan per Nachwahl in die Nationalversammlung kam, trat Gül ihm das Amt des Regierungschefs verabredungsgemäß ab und wechselte ins Außenministerium.

2007 belohnte Erdogan seinen alten Freund mit dem Amt des Präsidenten – bis er 2014 selbst an die Staatsspitze aufrückte. Da waren beide Männer bereits auf Distanz. Erste Differenzen zeigten sich während der Massenproteste im Sommer 2013. Während Gül als Präsident dafür plädierte, auf die Demonstranten zuzugehen, setzte Erdogan einen harten Kurs durch. Er schlug die Proteste mit Polizeieinsätzen nieder, bezeichnete die Demonstranten als „Ratten“ und „Terroristen“.

Erdogan-Rivalin will Präsidialsystem wieder abschaffen

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    Gül gilt als Gegner des neuen Präsidialsystems

    Als im Dezember 2013 schwere Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung Erdogan aufkamen, vertiefte sich der Graben. Sie sind ohnehin zwei unterschiedliche Charaktere: Auf der einen Seite der humorvolle, verbindlich auftretende Gül. Auf der anderen Seite der zunehmend selbstherrliche und zu Zornesausbrüchen neigende Erdogan.

    Während Erdogan sich und sein Land von lauter Feinden und Verschwörern umgeben sieht, verdankt der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Gül seinen Studienaufenthalten in Großbritannien und seiner Tätigkeit als Manager einer Entwicklungsbank eine gewisse Weltläufigkeit. Als Außenminister war es Gül, der mit diplomatischem Geschick und Reformbereitschaft den Weg zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU ebnete.

    Bei einer Wahl könnte Gül für Erdogan gefährlich werden

    Doch mit Erdogans zunehmend autoritärem Kurs und der Aushöhlung des Rechtsstaats hat sich die Türkei inzwischen wieder weit von der EU entfernt. Unversehens wird nun Gül zu einem Hoffnungsträger für viele Türken, die ihr Land wieder näher an Europa bringen möchten. Gül gilt als Gegner des Präsidialsystems, das mit der 2019 geplanten Präsidenten- und Parlamentswahl in Kraft treten soll. Jetzt wird der 67-Jährige in regierungskritischen Medien bereits als möglicher Herausforderer Erdogans bei der Präsidentenwahl gehandelt.

    Aber wird aus dem „Bruder“, als den Erdogan früher seinen Freund Gül bezeichnete, wirklich ein Brutus? Bisher war Gül ein Zauderer. Während der Massenproteste von 2013 fügte er sich Erdogan. Zu den Korruptionsvorwürfen schwieg er. Auch beim Verfassungsreferendum von 2017 hielt Gül sich mit Kritik zurück. Der öffentliche Schlagabtausch über das umstrittene Notstandsdekret ist insofern eine Überraschung. Auch wenn regierungstreue Medien schon lange versuchen, Gül in die Nähe des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen zu rücken, hat der frühere Präsident in der AKP noch viele Freunde. Zugleich wächst in der Partei der Unmut über Erdogans Alleinherrschaft. Tritt Gül tatsächlich bei der Präsidentenwahl an, könnte er für Erdogan zu einem gefährlichen Rivalen werden.