Tokio . Vor rund 40 Jahren entführte Nordkorea mehrere Menschen. Yaeko Taguchi war eine von ihnen. Ihr Bruder berichtet über seine Hoffnung.

Jedes Mal, wenn Shigeo Iizuka das Jackett wechselt, das macht er alle zwei, drei Tage, dann steckt er zuerst die beiden Pins wieder ans Revers. Obwohl er 79 Jahre alt ist und pensioniert, achtet er auf sein Äußeres.

Ein Anstecker ist ein rotes A – von seinem ehemaligen Arbeitgeber. Er schaut dort noch heute ab und zu nach dem rechten. Der andere Pin sieht aus wie eine dunkelblaue Schleife. Shigeo Iizuka sagt: „Die blaue Schleife symbolisiert den Himmel und das Wasser – das sind die einzigen beiden Elemente, die mich noch mit meiner kleinen Schwester verbinden.“ Dann greift er sofort nach seinem Jahreskalender, einem gebundenen Buch und holt ihr Foto heraus. „Das ist Yaeko Taguchi, meine Schwester, sie lebt in Nordkorea.“

Vor rund 40 Jahren entführte Nordkorea mehrere Menschen

Shigeo Iizuka.
Shigeo Iizuka. © Sören Kittel | Sören Kittel

Die Frau auf dem Schwarz-Weiß-Foto ist Anfang 20. Sie schaut ernst in die Kamera. Inzwischen muss sie 62 Jahre alt sein, seit fast 40 Jahren lebt sie jetzt in dem Land, das vom Weltall aus mangels elektrischer Beleuchtung wie ein schwarzer Fleck aussieht. Nordkorea ist die abgeschottete Diktatur, die gerade in den vergangenen Jahren immer wieder durch Raketentests auf sich aufmerksam macht.

Was weniger bekannt ist: Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre kam es häufiger vor, dass vor allem Südkoreaner und Japaner von nordkoreanischen Agenten entführt wurden. Laut japanischer Regierung gab es offiziell 17 Fälle, Yaeko Taguchi ist einer davon. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass es viel mehr sind. Manchmal griffen die Agenten gezielt Filmemacher oder Köche auf, die dann für den „Geliebten Führer“ Kim Il-sung arbeiten mussten, manchmal auch Zufallsopfer, wie Fischer oder Liebespärchen, die am Strand entlangliefen.

Die Schwester soll bei einem Terrorattentat helfen

Yaeko Taguchi war keines dieser Zufallsopfer, da ist sich ihr älterer Bruder sicher. Er glaubt, dass sie für eine Mission ausgesucht wurde, damals im Juni 1978. „Sie wurde schließlich mitten in Tokio entführt“, sagt Iizuka. „Außerdem hat mir der Besitzer der Bar erzählt, dass ihm schon ein paar Tage vor der Entführung verdächtige Männer aufgefallen waren, die jemanden beobachteten.“

Das Letzte, was er über seine Schwester noch gehört hat, war, dass sie in ein Auto gedrängt wurde, das dann in Richtung Küste abgefahren sei. Sie hinterließ eine drei Jahre alte Tochter und einen einjährigen Sohn, Koichiro. „Sie hat ihn zu der Zeit noch gestillt“, sagt Iizuka, „sie hat ihre Kinder geliebt und hätte sie niemals zurückgelassen.“

Wer Shigeo Iizuka erlebt, hört keine Enttäuschung oder Trauer heraus. Seine Stimme ist fest und fast dozierend, sie erinnert selbst bei emotionalen Details eher an einen Geschichtsprofessor. Aber er wurde über die Jahre auch Experte über die Verhältnisse in Ostasien. Er ist sich bewusst, dass sein Fall ins Mark der Beziehungen der drei ostasiatischen Staaten führt: Die beiden Koreas und Japan verbindet eine jahrhundertelange Folge von Kriegen, Krisen, Abhängigkeiten und Jahren der Abschottung.

Hoffnung aus Annäherung

Iizuka liest seit vierzig Jahren alles über die Entwicklungen dieser Beziehung. Seit Kim Jong-uns Machtübernahme im Dezember 2011 macht Nordkorea vor allem durch die Atomwaffen-Tests auf sich Aufmerksam. Doch in seiner Neujahrsansprache vor wenigen Tagen hatte Kim Dialogbereitschaft signalisiert. Südkorea schlug daraufhin vor, kurz vor den Olympischen Winterspielen ein offizielles Gespräch zu führen. Seit 2016 herrschte Funkstille zwischen beiden Ländern. Sogar eine Teilnahme Nordkoreas bei den Spielen in Pyeongchang steht nun in Aussicht.

Iizuka hat die Äußerungen Donald Trumps zu Nordkorea bei dessen Besuch im November genau verfolgt – sogar zu den Entführungsopfern aus Japan hat sich der US-Präsident geäußert. „Seine Worte sind wie der Wurf eines Steins in ein stilles Wasser“, sagt er, „es könnte große Wellen schlagen, einen stimulierenden Effekt haben.“ Solange Fälle wie der seine nicht gelöst sind, wird auch eine Einigung der Staaten unmöglich sein.

Sohn der entführten Schwester blieb zurück

Der Sohn von Yaeko Taguchi: Koichiro Iizuka.
Der Sohn von Yaeko Taguchi: Koichiro Iizuka. © Sören Kittel

Mit ihm kämpft inzwischen Koichiro Iizuka, der Sohn seiner entführten Schwester, den er als seinen Sohn aufzog und ihn erst spät in seine wahre Herkunft einweihte. „Er nennt seine Mutter immer Yaeko-San“, sagt Iizuka, „das tut mir weh, aber ich bin mir sicher, wenn er sie wiedersieht, wird er ,Mutter’ zu ihr sagen.“ Der Sohn schrieb ein Buch mit einem Titel, der seine komplizierte Familiengeschichte zusammenfasst: „Ich war ein Jahr alt, als meine Mutter entführt wurde.“

Einen Anhaltspunkt dafür, dass Yaeko noch lebt, gaben Iizuka die Gespräche mit Kim Hyon-hui, einer inzwischen enttarnten nordkoreanischen Agentin. Sie steckte hinter einem Flugzeugattentat von 1987, das 115 Menschen tötete, die meisten davon Südkoreaner. Das konnte nur gelingen, weil die Agentin Kim sich als Japanerin ausgab. Nach ihrer Verhaftung erzählte sie den Behörden, wer ihr beibrachte, wie junge Japanerinnen sprechen, gehen und sich kleiden: eine Japanerin namens Yaeko Taguchi. Laut Kim Hyon-hui lebte sie lange mit Yaeko in einem Zimmer zusammen, sie lernte viel über japanische Kultur. Vielleicht wurden sie auf eine Art auch Freundinnen. Alles, damit sie unbemerkt die Bombe an Bord des Flugzeuges deponieren konnte.

Japans Premier konnte Entführte befreien

Im Jahr 2002 schöpfte Shigeo Iizuka noch einmal Hoffnung: In jenem Jahr setzte sich der japanische Premier bei einer bilateralen Konferenz mit Nordkorea für die entführten japanischen Staatsbürger ein. Nordkorea gab damals zum ersten Mal 13 Entführungen offiziell zu, aber legte zeitgleich acht Totenscheine als Beweis dafür vor, dass nicht alle Japaner zurückgeführt werden können. Zwei Jahre später gab Nordkorea zu, dass diese Totenscheine gefälscht waren, auch der von Yaeko Taguchi. Die Chance, die übrigen Entführten zurückzuholen, sind trotzdem gesunken. Seitdem Nordkorea Raketen über Japan fliegen lässt, sind die Beziehungen beider Länder sehr schlecht.

„Immerhin“, sagt Iizuka, „erfuhr ich damals von einer der Heimkehrerinnen, dass sie Kontakt mit Yaeko hatte.“ In den Jahren darauf traf er sich immer wieder mit hohen Politikern, aus Japan, aber auch aus anderen Ländern. Er reiste nach Europa und die USA, hielt Vorträge über seine Schwester. Er sagt, dass er das auch aus einem Schuldgefühl heraus tue. „Sie nannte mich Anchan“, sagt er und lächelt dabei zum ersten Mal. So sagt man umgangssprachlich für „Großer Bruder“. Dann wird er wieder ernst. „Sie war immer sehr selbstbewusst“, sagt Shigeo Iizuka, „ich als großer Bruder sollte ja eigentlich auf sie aufpassen, aber sie war zu stolz dafür.“

Am Ende des Gespräches packt Shigeo Iizuka die Fotos wieder ein: Das Schwarz-Weiß-Bild von Yaeko Taguchi und ihrem Sohn Koichiro, der auf dem Bild älter ist als seine Mutter. Sie liegen in der ersten Umschlagseite seines Kalenders. Er schaut sie an und sagt: „Die Wangenknochen sind sehr gleich …“, macht eine Pause und dann: „… und die Augen, wenn ich sie anschaue, Yaeko, weiß ich, dass sie noch lebt, irgendwo.“