Berlin. Vizekanzler Sigmar Gabriel über die Grenzen der Zuwanderung, neue Regeln für die Integration und die Rolle der SPD in den Sondierungen.

Am Ende eines bemerkenswerten Jahres gibt es noch einmal Aufregung im Ministerbüro von Sigmar Gabriel. Ein verdächtiges Päckchen ist abgegeben worden. „Möglicherweise kontaminiert“, sagt die Sprecherin. Der Sicherheitsdienst des Auswärtigen Amtes rückt an, Räume werden gesperrt. Das Interview wird ins Frühstückszimmer verlegt. Eine Stunde später kommt Entwarnung. In dem Päckchen war nichts Gefährliches.

Herr Gabriel, Sie haben auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz verzichtet – mit zwei Ergebnissen: Die SPD hat die Bundestagswahl krachend verloren, und Sie sind als Außenminister beliebtester Politiker geworden. Alles richtig gemacht?

Sigmar Gabriel: Ich war damals der Überzeugung, dass es richtig war, Martin Schulz den Vortritt zu lassen. Man spürt ja, wenn die eigene Partei das Vertrauen in den Vorsitzenden verliert. Nach fast acht Jahren im Vorsitz der SPD hatte es viele Reibungen gegeben. Viele wünschten sich einen neuen Hoffnungsträger. Mit Martin Schulz hatten sie den damals auch gefunden. Und er ist ja ein großartiger Mensch und Politiker – mit viel Herzblut und großem Engagement. Hätte ich das nicht gemacht, hätte spätestens nach den drei verlorenen Landtagswahlen die Debatte begonnen, ob man nicht doch einen anderen Kanzlerkandidaten nehmen soll. Diesen quälenden Prozess, den wir ja schon einmal beim fast schon erzwungenen Rücktritt von Kurt Beck 2008 erlebt haben, wollte ich der SPD und auch mir ersparen. Das war alles richtig und bleibt auch richtig.

Sie sagen, die SPD hatte damals einen Hoffnungsträger gefunden. Ist Martin Schulz das nicht mehr?

Gabriel: Doch, das ist er natürlich noch. Sicher hat die Bundestagswahl Spuren hinterlassen. Aber Martin Schulz ist mit 82 Prozent als SPD-Vorsitzender wiedergewählt worden. Das ist angesichts der dramatischen Situation, in der sich die SPD nach der Wahl befunden hat, ein ausgezeichnetes Ergebnis und zeigt das Vertrauen in ihn. Er führt die SPD mit großer Unterstützung aus der Partei heraus.

Sondierungsgespräche beginnen am 7. Januar

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    Ist Ihr Wunsch, mehr Zeit für die Familie zu haben, eigentlich in Erfüllung gegangen?

    Gabriel: Das glaubt natürlich kein Mensch, dass man als Außenminister mehr Zeit hat. Tatsache ist, dass ich damals drei Jobs hatte: Vorsitzender der SPD, Koordinierer in der Regierung und Wirtschaftsminister. Das hat ungeheuer viel Zeit gekostet. Von Montag bis Freitag ist es sicher nicht weniger geworden, eher mehr. Aber jetzt habe ich auch mal von Freitagnacht bis Sonntagnacht ein ganzes Wochenende frei. Das kannte ich seit vielen Jahren nicht mehr. Das ist schon okay.

    Sind Sie froh, dass sich die SPD zu neuen Sondierungen mit der Union durchgerungen hat?

    Gabriel: Ich fand die Entscheidung, nach der Wahl in die Opposition zu gehen, ausdrücklich richtig: Dieses Wahlergebnis war kein Mandat zum Weiterregieren in der großen Koalition. Niemand hat erwartet, dass die Union und die Kanzlerin Angela Merkel so führungsschwach sind und ein Bündnis mit Grünen und FDP nicht hinbekommen. Das ist ein dramatisches Versagen gerade der Union. Nach dem Scheitern ist die Lage nun so, dass wir reden müssen …

    … und zwar worüber?

    Gabriel: Ich wünsche mir, dass mehr über das geredet wird, was auf die Menschen in Deutschland und Europa zukommt. Dass wir darüber reden, was für die Bürger wichtig ist – und nicht mehr über Taktik, Koalitionspoker und Regierungsämter. Martin Schulz hat damit begonnen: Bildung, Pflege, Gesundheit, Rente, Europa. Jetzt ist endlich die CDU/CSU dran. Die müssen auch mal sagen, was sie eigentlich wollen, was sie für wichtig halten und was nicht. Erst dann ist eine demokratische Meinungsbildung in der Öffentlichkeit doch überhaupt möglich. Das verstehe ich unter dem Auftrag unserer Verfassung, dass Parteien an der Willensbildung des deutschen Volkes mitwirken.

    Tun sie das nicht?

    Gabriel: Das alles hat in den Sondierungen zwischen Union, Grünen und FDP doch nicht stattgefunden. Da gab es nur nette Fotos auf dem Balkon und irgendwelche Tweets. Das hatte doch alles nichts mehr mit Politik zu tun. Die Menschen sind dessen überdrüssig nach den Verhandlungen um die sogenannte Jamaika-Koalition. Es geht jetzt nicht um Dienstwagen und Jobs. Wenn wir über die Herausforderungen für Deutschland reden, wird klarer, ob es sich lohnt, eine Regierung zu bilden.

    Wäre eine Minderheitsregierung eine Alternative?

    Gabriel: Es gibt in der SPD wichtige Stimmen, die das für eine denkbare Alternative halten. Ich bin da eher skeptisch, weil eine wackelige Regierung in Deutschland vermutlich in Europa zum Beben führen könnte. Aber geredet werden muss auch darüber.

    Warum verzichtet die SPD bei den Sondierungen auf Sie?

    Gabriel: Der Parteivorstand wollte keinen Minister in der Sondierungsgruppe haben, um der SPD-Basis und der CDU nicht den Eindruck zu vermitteln, alles sei schon klar für eine neue große Koalition.

    In der SPD wird intensiv über die Einführung einer Bürgerversicherung gesprochen. Trägt man mit Maximalforderungen zum Gelingen von Sondierungen bei?

    Gabriel: Es ist erst einmal vernünftig, die Ungleichbehandlung von privat und gesetzlich Versicherten zu beenden. Es muss auch Schluss damit sein, dass Arbeitgeber geringere Beiträge zahlen als Arbeitnehmer.

    Sigmar Gabriel beim Interview mit unserer Redaktion.
    Sigmar Gabriel beim Interview mit unserer Redaktion. © Amin Akhtar | Amin Akhtar

    Braucht man dafür eine Einheitskasse?

    Gabriel: Das ist eigentlich nur ein Schlagwort, um die Idee einer fairen und gerechten Gesundheitsversorgung für alle zu diskreditieren. Wettbewerb gibt es auch unter den gesetzlichen Krankenversicherungen.

    Auch die Union baut Hürden auf – gerade bei der Zuwanderung. Akzeptiert die SPD eine Obergrenze für Flüchtlinge?

    Gabriel: Wir müssen aufhören, Scheindebatten zu führen. Natürlich kennt das Asylrecht keine Obergrenze. Dieser Streit zwischen dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer und der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel hat zwei Jahre jede aufgeklärte Diskussion verhindert. Dass das Asylrecht niemand antasten darf, ist doch weitgehend unumstritten. Mit der SPD gibt es das sowieso nicht. Es geht doch um etwas anderes, nämlich um die Frage: Welche Kraft hat dieses Land, um Menschen dauerhaft zu integrieren? Wie viel schaffen wir da wirklich?

    Ihre Antwort?

    Gabriel: Die Mehrzahl der Menschen kommt ja gerade nicht als Asylbewerber. Viele kommen zu uns, weil Deutschland für sie das ist, was Amerika im 19. Jahrhundert war – ein Sehnsuchtsort. Das ist übrigens erst mal etwas Wunderbares. Denn vor wenigen Jahrzehnten war Deutschland ein Land, vor dem der Rest der Welt Angst hatte. Jetzt haben wir von unseren Eltern und Großeltern ein tolles Land geerbt, das überall auf der Welt bewundert wird. Aber wir können nicht alle Sehnsüchte erfüllen. Für eine Million Flüchtlinge brauchen wir 25.000 zusätzliche Lehrer, 15.000 zusätzliche Erzieher, zigtausend neue Wohnungen. Es reicht nicht zu sagen, Zuwanderung ist schön. In Wahrheit integrieren wir gerade nicht genug, sondern überlassen viele Leute sich selbst. Das will keiner. Deshalb brauchen wir eine aufgeklärte Diskussion darüber, wie groß unsere Integrationsfähigkeit für die ist, die nicht als Asylbewerber zu uns kommen, sondern weil ihr Leben zu Hause elend ist und sie sich hier das erhoffen, was sich einst Menschen von der Auswanderung in die USA erhofft haben.

    „Kommunen sollen selbst entscheiden, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen“: Sigmar Gabriel.
    „Kommunen sollen selbst entscheiden, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen“: Sigmar Gabriel. © Amin Akhtar | Amin Akhtar

    Was genau will die SPD?

    Gabriel: Wir müssen einerseits dafür sorgen, dass es legale Zuwanderung gibt, damit wir das Schlepperunwesen und den Menschenhandel endlich unterbinden. Gleichzeitig müssen wir unsere Integrationsfähigkeit ausbauen. Dabei dürfen wir die nicht vergessen, die hier leben. Wir müssen zeigen, dass wir Kraft für beides haben: Wir müssen Flüchtenden Schutz und eine neue Heimat bieten – und dürfen das Leben der Familien, der Rentner, der Menschen mit niedrigen Einkommen in Deutschland nicht vergessen, die es schon heute oft zu schwer haben. Klar ist auch, dass illegale Zuwanderer schneller zurückgeführt werden müssen. Und natürlich müssen wir in den Herkunftsländern die Bedingungen verbessern. Weitere Säulen sind ein besserer europäischer Grenzschutz – und eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik. Das ist ein Jahrhundertthema, für das es keine einfachen Lösungen gibt.

    Wie kann die Integration gelingen?

    Gabriel: Wir müssen die Städte und Gemeinden dafür belohnen, dass sie Flüchtlinge aufnehmen. Sie sollen die Kosten der Integration vom Bund ersetzt bekommen. Und sie sollen den gleichen Betrag obendrauf bekommen für ihre Bürger. Die Kommunen dürfen nicht vor der Entscheidung stehen: Flüchtlingsintegration oder Schwimmbadsanierung. Der Bund muss ihnen die Möglichkeit geben, beides zu tun. Auf dieser Basis sollten die Kommunen selbst entscheiden, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen. So können wir auch verhindern, dass bei den Bürgern der Eindruck entsteht: Für die Flüchtlinge wird alles getan, für uns nichts. Wir müssen diese doppelte Aufgabe meistern: Was zu tun für die, die hier leben – und was zu tun für die, die Hilfe brauchen.

    Ist das ein Modell für ganz Europa?

    Gabriel: In der Tat sollten wir solche Angebote europaweit diskutieren. Die EU könnte ein Programm auflegen, um Kommunen in ärmeren Mitgliedstaaten bei der Finanzierung zu helfen. So würden die Länder belohnt, die Flüchtlinge aufnehmen.

    In welchem Zustand sehen Sie Europa? Sind Nationalismus und Separatismus weiter im Aufwind?

    Gabriel: Das ist gar nicht meine allergrößte Sorge.

    Sondern?

    Gabriel: Ich habe drei große Sorgen, was Europa angeht. Erstens: Wir haben nicht nur ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sondern ein Europa der unterschiedlichen Richtungen. In Nord, Süd, Ost und West gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen, wohin es mit Europa gehen soll. Zweitens gibt es Kräfte von außen, die versuchen, uns auseinanderzutreiben – teilweise mit Erfolg. Drittens: Europa hat noch nicht gelernt, dass es ein weltpolitischer Akteur werden muss.

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      Europa als Weltmacht – geht es Ihnen darum?

      Gabriel: Ich finde den Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sehr gut. Wir brauchen ein Europa, das seine Interessen und Werte nach außen trägt und durchsetzt. Macron ist wirklich ein Glücksfall für Europa. Es geht gar nicht darum, ob man mit jedem Teil seiner Reformpläne übereinstimmt. Wenn die Franzosen eine europäischen Finanzminister fordern, glauben ein paar in Europa, das sei der Nikolaus – und andere glauben, das sei Knecht Ruprecht.

      Was glauben Sie?

      Gabriel: Ich glaube nicht an den Weihnachtsmann. Ich bin begeistert von Macrons Kernidee: Europa nach innen zu schützen – und nach außen die Interessen und Werte der Europäer zu vertreten. Wir müssen ein weltpolitischer Akteur werden. Dann werden Leute auch aufhören, Europa den Rücken zu kehren.

      Macron fordert einen gemeinsamen Haushalt für die Eurogruppe.

      Gabriel: Das unterstütze ich. Deutschland ist der größte Gewinner der EU – und kann ruhig etwas mehr beisteuern, ohne Fracksausen zu bekommen. Da war der CDU-Kanzler Helmut Kohl echt mutiger. Er wusste: Es geht um die Zukunft des ganzen Kontinents. Er war wie die Sozialdemokraten Willy Brandt und Helmut Schmidt wirklich ein großer Deutscher und Europäer. Wir sollten bereit sein, mehr in unsere Zukunft zu investieren. Man muss nicht Volkswirtschaft studiert haben, um zu wissen, dass unser Wohlstand vom Wohlstand anderer abhängt.

      Wie wichtig werden Macrons Vorschläge für die Koalitionsverhandlungen?

      Gabriel: Sehr wichtig, dafür wird Martin Schulz schon sorgen mit seiner europäischen Biografie. Es steht ja zehn zu null für Frankreich, wenn es um europäische Initiativen geht. Deutschland hat in den vergangenen Monaten gar nichts gemacht. Alles, was aus dem Auswärtigen Amt gekommen ist, hat das Kanzleramt aufgehalten.

      Machen Sie den gemeinsamen Haushalt für die Eurogruppe zur Koalitionsbedingung?

      Gabriel: Ich bin nicht derjenige, der rote Linien beschreibt. Ich sage nur, dass vieles von dem, was Macron fordert, für Europa richtig ist.