Berlin. Im Bundestag soll ein Gremium Hintergründe des Berliner Anschlags aufklären. Strittig ist, wie stark der Blick auf das Asylrecht fällt.

Es ist ein halbes Jahr her, da hatte der Grünen-Politiker Konstantin von Notz einen Untersuchungsausschuss im Bundestag zum Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt gefordert. Damals reagierte die Große Koalition vorsichtig bis abwehrend. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Michael Grosse-Brömer, nannte den Grünen-Vorstoß „peinlich“.

Jetzt, ein halbes Jahr später und kurz vor dem Jahrestag des Anschlags, hat sich die Lage geändert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht in der Kritik der Opferangehörigen, sie habe „eklatante Missstände in den Sicherheitsbehörden“ mitzuverantworten, schreiben diese in einem Offenen Brief. Und auch die Union will nun einen Ausschuss, nachdem neue Pannen der Sicherheitsbehörden bekannt geworden waren. Nun soll es schnell gehen mit einem Gremium, dass das Versagen der Behörden auch auf Bundesebene aufarbeitet.

Pannen – auch im Bund

Doch die Konflikte zwischen den Parteien bleiben. Zum einen ist umstritten, worüber der Ausschuss aufklären soll. Zum anderen ist die Frage heikel: Wie eng arbeiten die bisher im Bundestag vertretenen Parteien mit der AfD zusammen, die nun auch dort sitzt?

Dabei ist Entschlossenheit der Politik geboten: Zwölf Menschen starben bei dem Attentat, das die Behörden womöglich hätten verhindern können. Über Monate observierte die Polizei den späteren Attentäter Anis Amri – und gelangte doch zu der Einschätzung, er werde unmittelbar kein Attentat verüben.

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    Mehrfach scheiterten die Behörden zudem an der Abschiebung nach Tunesien. Im Nachhinein fälschten Beamte in Berlin in einem Ermittlungsverfahren belastende Erkenntnisse zu Amris Drogengeschäften. Nach Ansicht aller Parteien gibt es genug Arbeit für einen Ausschuss – auch im Bund.

    Eigentlich wollte die Unionsfraktion ihren Antrag schon in dieser Woche im Plenum präsentieren, heißt es unter den Innenexperten des Parlaments. Nun wird ein Ausschuss zum Attentat des Tunesiers Anis Amri im Dezember 2016 erst im Januar 2018 im Bundestag diskutiert werden. SPD und Grüne, aber auch Linke und AfD haben ihre eigenen Vorstellungen, mit wem und über was in diesem Untersuchungsausschuss diskutiert werden soll – darüber herrscht weniger Einigkeit. Hinter den Kulissen werde hart gerungen, heißt es an einer Stelle. Ein Treffen der Fachleute aus den Parteien am Ende dieser letzten Sitzungswoche soll die Zerwürfnisse beseitigen.

    Plante Amri den Anschlag allein?

    Sowohl die Unionsfraktion als auch die Grünen haben bereits einen Antrag für einen Ausschuss erarbeitet, mit dem sie die Stoßrichtung eines solchen Gremiums abstecken – je nach politischer Färbung. Beide Dokumente liegen dieser Redaktion vor. Viele kritische Fragen an die Sicherheitsbehörden und Ziele zur Aufklärung sind vergleichbar: So wollen sowohl Union als auch Grüne mehr herausfinden über den Austausch von Informationen zur „Akte Amri“ etwa im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländern in Berlin.

    Zudem wachsen die Zweifel daran, dass Anis Amri allein den Anschlag geplant hat. Auch hier wollen alle Parteien mit dem Untersuchungsausschuss nachforschen, ob Amri Komplizen oder zumindest Kontakt zu Islamisten hatte, die ihm bei der Vorbereitung des Attentats geholfen hatten.

    Doch wer die Anträge von Union und Grünen vergleicht, erkennt schnell die Konflikte in der politischen Stoßrichtung eines künftigen Ausschusses. Die Grünen blicken in ihrem sechsseitigen Dokument vor allem auf Rolle der Sicherheitsbehörden – und ihre verdeckten Ermittler oder Spitzel in den Ermittlungen gegen Amri und die islamistische Szene. Es solle geklärt werden, ob und inwieweit Amri als „Nachrichtenmittler“ oder „ähnliche Informationsquelle“ für die Behörden fungiert habe. Die Grünen wollen auch klären, welche Sicherheitsbehörde zu welchem Zeitpunkt Zugang zu Chatprotokollen des Attentäters hatte und wie damit innerhalb der Behörden umgegangen wurde.

    Lehren für das Asylrecht

    Die Union hat in ihrem Antrag für einen Untersuchungsausschuss einen stärkeren Fokus auf mögliche Sicherheitslücken im deutschen Asylsystem. Neben dem Blick auf Staatsanwaltschaft und Polizei sei zu prüfen, ob die Behörden alle Maßnahmen im Asyl- und Aufenthaltsrecht ausgeschöpft haben, sagt der Innenexperte der CDU, Stephan Harbarth, unserer Redaktion. „Die Entstehungsgeschichte des Anschlages muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aufgeklärt werden.“ Zudem wolle Harbarths Partei mit Hilfe eines Untersuchungsausschusses „Lehren“ für die Befugnisse und die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden ziehen.

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      Was nach harmlosen Unterschieden zwischen den Parteien klingt, kann die Arbeit in einem Ausschuss zum Politikum machen – und die Aufklärung der Behördenpannen empfindlich bremsen. Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic sagt unserer Redaktion: „Wir freuen uns, dass die Unionsfraktionen nun auch einen Untersuchungsausschuss unterstützen.“ Gleichzeitig hebt Mihalic hervor, dass dieser Antrag „in seinem Auftrag jedoch nicht vor der Tür des Kanzleramts Halt machen“ dürfe. Und Mihalic sagt: „Auch die Fokussierung auf das Asylrecht als Ersatz für eine offene sicherheitspolitische Analyse lehnen wir ab.“

      Blick auf die V-Leute

      Die Linksfraktion schlägt ebenfalls Kritik an der Vorstellung der Union an. Nach Ansicht von Innenexpertin Martina Renner wolle ihre Fraktion wie auch die Grünen den Blick darauf werfen, „was und wann möglicherweise V-Personen von Verfassungsschutz und Polizei von Anschlagsplänen“ gewusst hätten.

      Diese Konflikte sind nicht neu. Schon beim Untersuchungsausschuss zum rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) zeigten sich die politischen Gräben. Linke und Grüne, aber auch die SPD, hatten Zeugen von Verfassungsschutz und Polizei mehrfach zu Spitzeln in der Neonazi-Szene und eine mögliche Kooperation mit der Terrorgruppe befragt. Sie kritisierten zudem, dass die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern Akten zu dem Fall unter Verschluss hielten.

      Weitere Ermittlungspanne im Fall Amri in Nordrhein-Westfalen

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        Musterbeispiel NSU-Ausschuss

        Genau dieser NSU-Ausschuss wird im Berliner Betrieb allerdings auch immer wieder als Beispiel genannt, wie gute Zusammenarbeit über die Fraktionen von links nach rechts hinaus gelingt. Bei Anträgen und Abschlusserklärungen wurde Geschlossenheit demonstriert – auch aus Respekt vor den Opfern der rassistischen Mordserie und deren Angehörigen. Alle Mitglieder des Ausschusses gingen fair miteinander um. So erzählen es die Beteiligten von damals.

        Gelingt diese Einigkeit der Fraktionen beim Amri-Ausschuss nicht mehr? Ein neuer Faktor sitzt im Parlament: die Alternative für Deutschland, AfD. Die Linke lehnt eine Zusammenarbeit strikt ab. „Wir werden keinen Antrag im Bundestag mittragen, in dem die AfD eingebunden ist“, sagte Innenpolitikerin Renner.

        Die AfD sei „im Kern anti-demokratisch“. Die Partei werde den Ausschuss zum Amri-Attentat „für islamfeindliche Hetze nutzen“, so Renner, und damit die Aufarbeitung behindern. In der Grünen-Fraktion sieht man das nach Information dieser Redaktion genauso. Und auch einzelne Unionspolitiker äußern sich verhalten und vorsichtig zu einer möglichen Kooperation mit der AfD. Doch so klar wie bei Linken und Grünen ist die Haltung der Union nicht. Im Gegenteil: Der Umgang mit der „Alternative“ ist für die Unionspolitiker eine Gratwanderung.

        Mit oder ohne die AfD?

        Im Berliner Abgeordnetenhaus hatten die Fraktionen schon im Juli einen Untersuchungsausschuss zum Attentat auf den Weihnachtsmarkt eingesetzt. Damals sei das auch ohne die im Landesparlament vertretene AfD gelungen, so Martina Renner von den Linken hervor.

        Vize-Vorsitzender ist dort nun der AfD-Politiker Karsten Woldeit. Er sagte dieser Redaktion, dass es seiner Partei vor allem darum gehe, „die Fehler zu finden, warum eine gefährliche Person wie Anis Amri nach Deutschland einreisen konnte“. Woldeit stellte im Sommer einen eigenen Antrag auf einen Untersuchungsausschuss, der von den anderen Parteien abgelehnt wurde. Der AfD-Politiker stimmte im Parlament am Ende auch für den Antrag der anderen Fraktionen.