Bir al-Abed. Terroristen haben bei einem Anschlag auf eine Moschee im Nordsinai mehr als 200 Menschen getötet. Ganz Ägypten steht unter Schock.

Horror und Entsetzen erschüttern Ägypten. Bei dem blutigsten Terrormassaker an Zivilisten in der modernen Geschichte des Landes wurden am Freitag in der Al-Rawdha-Moschee im Nordsinai-Städtchen Bir al-Abed mindestens 235 Beter getötet und über 140 verletzt. Das meldete die staatliche Nachrichtenagentur Mena, die sich auf Informationen des Gesundheitsministeriums berief.

Bilder aus dem Inneren des Gotteshauses, was sich etwa 40 Kilometer westlich der Provinzhauptstadt El-Arish befindet, zeigten dutzende Leichen auf dem Boden, die mit Tüchern abgedeckt waren. Nach Angaben von Überlebenden stürmte ein Terrorkommando während des Freitagsgebetes das Innere, zündete mehrere Bomben und nahm die in Panik Deckung suchenden Gläubigen mit Sturmgewehren unter Feuer. Mit vier Geländewagen waren die Terroristen vorgefahren.

Regierung ruft dreitätige Staatstrauer aus

Auch Krankenwagen, die Verletzte bergen wollten, wurden beschossen. Die Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Präsident Abdel Fattah al-Sisi bestellte den Nationalen Sicherheitsrat ein. Bis zum Abend jedoch bekannte sich niemand zu der mörderischen Tat. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, der frühere ägyptische Außenminister Ahmed Abul Gheit, verurteilte dieses „schreckliche Verbrechen, was erneut zeigt, dass der Islam keine Schuld für diejenigen trägt, die sich einer extremistischen Ideologie anschließen“.

Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi.
Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi. © REUTERS | YIANNIS KOURTOGLOU

Ägypten führt seit vier Jahren auf dem Nordsinai einen immer brutaler werdenden Krieg gegen den örtliche Ableger des „Islamischen Staates“, dem schon hunderte Soldaten und Polizisten zum Opfer gefallen sind.

Medien und internationalen Beobachtern ist die Fahrt dorthin verboten, so dass das Ausmaß der Kämpfe im Dunkeln bleibt. Präsident Sisi beschwört regelmäßig nach Attentaten, „den Terrorismus auf dem Sinai komplett auszurotten“. Erst kürzlich erklärte er bei einer Rede vor Offizieren, auf der Halbinsel seien inzwischen 20.000 und 25.000 Soldaten im Einsatz, mehr als bei dem Sechs-Tage-Krieg 1967 gegen Israel.

IS-Terroristen verübten schon viele Anschläge

Bisher griffen die Extremisten in der Regel Einheiten von Armee oder Polizei sowie Personen an, die sie verdächtigen, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren. Anfang Oktober stürmten über 100 Dschihadisten einen Außenposten nahe der Stadt Sheikh Zuwaid, sechs Soldaten und 24 Militante starben. Vorletzte Woche wurden neun Lastwagenfahrer auf offener Straße exekutiert, die Kohle für eine Zementfabrik in El-Arish geladen hatten, die der Armee gehört.

Im Februar verübten IS-Gotteskrieger eine spektakuläre Mordserie an Kopten. Sämtliche der rund 500 vor Ort ansässigen Gläubigen flohen und ließen ihre Häuser zurück. Sie leben seitdem in Notunterkünften in der Suezkanal-Stadt Ismailia oder bei Verwandten in Oberägypten.

Dagegen blieb der Süden des Sinai, wo die Baderessorts an der Küste des Roten Meeres und des Golfes von Aqaba liegen, bisher von Attentaten weitgehend verschont. Im Oktober 2015 jedoch gelang es einem IS-Komplizen, auf dem Rollfeld des Flughafens von Sharm el-Sheikh eine Bombe an Bord einer russischen Chartermaschine zu schmuggeln.

Anschläge gegen Moscheen waren bislang selten

Der Ferienflieger explodierte etwa eine halbe Stunde nach dem Start, 229 Menschen starben. Seitdem sind sämtliche Luftverbindungen zwischen Russland und Ägypten unterbrochen, weil Moskau auf eine grundlegende Verbesserung der ägyptischen Sicherheitskontrollen pocht.

Ägyptische Soldaten an einem Checkpoint in Al-Arisch (Ägypten) im Norden des Sinai – in der Region lebt man schon länger mit der Bedrohung durch den IS.
Ägyptische Soldaten an einem Checkpoint in Al-Arisch (Ägypten) im Norden des Sinai – in der Region lebt man schon länger mit der Bedrohung durch den IS. © dpa | Foaad Gharnousi

Anschläge auf Gotteshäuser in Ägypten richteten bisher nur selten gegen Moscheen, sondern meist gegen Kirchen der christlich-koptischen Minderheit. Im April rissen zwei Selbstmordattentäter an Palmsonntag in Tanta und Alexandria 45 Kirchgänger mit in den Tod und verletzten 126. Der Anschlag auf die St. Markus Kathedrale in Alexandria galt offenbar dem koptischen Papst Tawadros II., der die Bischofskirche jedoch kurz zuvor verlassen hatte.

Vor knapp einem Jahr im Dezember 2016 sprengte sich ein Attentäter in der St. Peter und Paul Kirche im Zentrum von Kairo in die Luft, die direkt neben der koptischen Papst-Kathedrale liegt. Damals starben 29 Gläubige, vor allem Frauen und Kinder. Bei diesen drei Attentaten auf Kirchen bezichtigte sich die IS-Terrormiliz als Urheber.

IS soll in ägyptischen Gefängnissen vermehrt Rekruten suchen

Die am Freitag attackierte Al-Rawdha-Moschee auf dem Nordsinai ist nach Angaben örtlicher Stammesführer ein Zentrum der Sufis, zu deren Glaubenspraxis auch ekstatische Tänze sowie die Verehrung frommer Vorbilder gehören. Anhänger des „Islamischen Staates“ dagegen, die einen puritanisch-salafistischen Islam befolgen, betrachten diese der Mystik zuneigenden Mitmuslime als Häretiker.

Vor einem Jahr enthaupteten die Fanatiker auf dem Nordsinai vor laufender Kamera einen älteren Sufi-Kleriker, den sie beschuldigen, er praktiziere Magie und Hexenkult. Andere Sufi-Anhänger kamen unversehrt frei, nachdem sie – umringt von bewaffneten Dschihadisten – ihrem angeblichen Unglauben abgeschworen hatten.

Im vergangenen Mai veröffentlichte die IS-Publikation Al-Nabaa ein Interview mit einen Unbekannten, der sich als der neue Ägypten-Chef der sogenannten „Soldaten des Kalifates“ ausgab. Nach seinen Aussagen existieren inzwischen zwei voneinander unabhängige IS-Filialen auf ägyptischen Territorium, eine operiert als „Provinz Sinai“ im Norden der Halbinsel, die andere vom Nordsinai aus in den übrigen Teilen des Landes, vor allem in Kairo und im Nildelta.

Erst vor vier Wochen lockten Extremisten einen Konvoi von Anti-Terror-Spezialisten auf der Straße zwischen Kairo und der Oase Bahariyya in einen Hinterhalt und töteten 16 Beamte. Nach Aussagen von entlassenen Häftlingen wird der „Islamische Staat“ auch in ägyptischen Gefängnissen zunehmend virulent und versucht, unter den 60.000 politischen Gefangenen des Sisi-Regimes neue Anhänger zu rekrutieren.