Berlin. In den vergangenen Wochen wurde die Waffenruhe im Osten der Ukraine immer häufiger gebrochen. Wie lässt sich das künftig verhindern?

Seit rund dreieinhalb Jahren wird am östlichen Rand der EU geschossen: Im Osten der Ukraine kämpfen Regierungstruppen gegen pro-russische Rebellen. Entlang einer Kontaktlinie von rund 500 Kilometern stehen sich beide Seiten zum Teil bis auf Sichtweite gegenüber. Sie setzen Panzer, Artillerie und Mehrfachraketenwerfer ein.

Mehr als 10.000 Menschen wurden bisher im Ukraine-Konflikt getötet. Experten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) warnen, dass die Zahl der Opfer stark ansteigen könnte.

Mehr als 30.000 Verstöße gegen Waffenruhe

„Wir befürchten, dass es in den kommenden Monaten zu einer drastischen Zunahme der Gewalt in der Ostukraine kommen wird“, sagt der stellvertretende Leiter der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, Alexander Hug, dieser Zeitung. „Wenn der Boden im Winter gefriert, wird es leider noch leichter, die schweren Waffen zu bewegen.“

Hug rechnet damit, dass sich die Lage ähnlich zuspitzen wird wie vor einem Jahr: „Ende Januar und Anfang Februar kam es zu sehr schweren Auseinandersetzungen.“ Damals habe die OSZE innerhalb von einer Woche mehr als 30.000 Verstöße gegen die Waffenruhe gezählt. „Bereits in den vergangenen Wochen gab es einen stetigen Anstieg der Verletzungen der Waffenruhe“, sagte Hug.

Munitionsdepot explodiert

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    Die OSZE-Mission in der Ukraine umfasse insgesamt 635 internationale Beobachter. 518 seien im Osten des Landes tätig. Als technische Hilfsmittel zur Überwachung des Konfliktgebiets setzt die Organisation derzeit 24 Drohnen und elf Kameras ein. Darüber hinaus hat sie Zugang zu Satellitenbildern des Satellitenzentrums der EU in Madrid (Satcen).

    Mehr als 330.000-mal ist 2017 die Waffenruhe gebrochen worden

    OSZE-Vize Hug zieht eine düstere Bilanz. Seit Beginn des Jahres habe es mehr als 400 zivile Opfer im Donbass gegeben. Mehr als 330.000-mal sei die Waffenruhe gebrochen worden. „Wenn die militärischen Kräfte entlang der Kontaktlinie nicht entflochten und die schweren Waffen nicht abgezogen werden, wird sich die Situation weiter verschärfen“, betont Hug. Auf beide Bedingungen sowie eine generelle Waffenruhe haben sich die Streithähne 2015 im Minsker Abkommen verpflichtet – zusammen mit der Forderung nach Lokalwahlen in der Ostukraine und Autonomie für die Aufständischen. Bisher wurde kein Punkt umgesetzt.

    Dass die Konfliktparteien die Gewalt herunterschrauben können, haben sie bewiesen: So seien die Kämpfe während der Erntezeit im Sommer und zum Schulbeginn im September deutlich abgeflaut, unterstreicht Hug. „Aber bisher fehlt der politische Wille zu einer Gesamtlösung.“

    Moskau weist Vorwürfe zurück

    Der Ukraine-Konflikt eskalierte nach den Unruhen auf dem Kiewer Majdan Anfang 2014. Im März des gleichen Jahres annektierte Moskau die Halbinsel Krim, was zu internationalen Sanktionen führte. Die Regierung in Kiew wirft Russland vor, die abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk mit Geld, Waffen und Soldaten zu unterstützen.

    „Allein in der Region Luhansk befinden sich mehr als 300 russische Offiziere“, sagt Konstantin Jelisieiev, außenpolitischer Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, dieser Zeitung. Darüber hinaus seien 500 bis 700 russische Panzer im Einsatz. Moskau weist dies zurück.

    Volksabstimmung über Verfassung

    OSZE-Mann Hug lehnt eine Schuldzuweisung ab. „Es lässt sich objektiv nicht feststellen, ob die Kräfte der ukrainischen Regierung oder die bewaffneten Gruppierungen in den Gebieten, welche nicht von der Regierung kontrolliert werden, mehr Verantwortung für die Verletzung der Waffenruhe tragen. Fest steht: Alle Seiten verletzten die Waffenruhe.“

    Die Lage hat sich seit Sommer weiter verschärft. Die Regionen Donezk und Luhansk haben im Juli einen eigenen Staat namens „Malorossija“ (Kleinrussland) ausgerufen. Der Separatistenführer Alexander Sachartschenko kündigte einen dreijährigen Ausnahmezustand an, der ein Parteienverbot vorsieht. Danach soll eine Verfassung ausgearbeitet und zur Volksabstimmung vorgelegt werden.

    Videobotschaft von Ex-Minister

    Neuerdings sind sich die pro-russischen Widerständler allerdings nicht grün. In dem Gebiet um Luhansk kam es zu internen Auseinandersetzungen zwischen den Führern der Aufständischen. Maskierte Bewaffnete riegelten am Dienstag ins Stadtzentrum führende Straßen ab. Rebellenchef Igor Plotnizki machte auf der Internetseite der sogenannten Luhansker Volksrepublik Anhänger des von ihm am Montag entlassenen Innenministers Igor Kornet für die Revolte verantwortlich.

    Die Versuche einiger Elemente des Innenministeriums, gegen diese Entscheidung vorzugehen, hätten alle Grenzen gesprengt, erklärte Plotnizki. Ex-Minister Kornet erklärte in einer Videobotschaft hingegen, er sei nach wie vor im Amt.

    Weitere Schritte von Regierung in Kiew

    Die Regierung in Kiew wirft Russland eine „kontrollierte Eskalation“ in der Ostukraine vor. „Gegenwärtig verteidigt die Ukraine nicht nur ihre Souveränität und territoriale Integrität gegen Russland, sie ist auch zu einem Vorposten zum Schutz der Sicherheit, Prosperität und Werte des ganzen Europas geworden“, erklärt der außenpolitische Berater des Präsidenten, Jelisieiev. Die ukrainischen Truppen hielten Russland davon ab, tiefer in das eigene Territorium einzudringen und näher an die EU-Grenze heranzurücken.

    Die Ukraine sieht daher ihr Heil im Westen. Vom EU-Gipfel der Östlichen Partnerschaft am heutigen Freitag erhofft sich Jelisieiev ein deutliches Signal. „Wir wünschen uns, dass Brüssel die Gültigkeit von Artikel 49 des Lissaboner Vertrags bestätigt, wonach jede europäische Nation das Recht auf die EU-Mitgliedschaft hat.“

    Nach dem Assoziierungsabkommen mit der EU und dem Vertrag über Visafreiheit für Reisen in die Länder der Gemeinschaft peilt die Regierung in Kiew weitere Schritte an: So sollen die Aussichten für eine Integration in die EU-Energieunion, den europäischen digitalen Binnenmarkt sowie die Assoziierung der Ukraine mit den Ländern des Schengenraums geprüft werden. Zudem sei Kiew an einem „System der robusten Grenzkontrolle europäischen Stils“ interessiert, sagt Jelisieiev. „All dies dauert Jahre, aber wir brauchen eine klare Perspektive für den EU-Beitritt.“