Berlin. Mal Rauchmelder und mal Brandbeschleuniger? Über die Rolle der V-Leute in kriminellen Milieus und die Versäumnisse im Fall Anis Amri.

Der erste Jahrestag des Anschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt naht. Im Dezember wird viel von den Opfern und von ihren Angehörigen die Rede sein. Nicht wenige Politiker und Behördenleiter werden den Betroffenen kaum in die Augen schauen können. Denn der Fall Anis Amri ist ein Beispiel für ein Totalversagen des Staates. Das gilt für fast alle Ebenen, sämtliche zuständige Behörden, schwerpunktmäßig in Nordrhein-Westfalen und Berlin – nicht zufällig schieben sie sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Wären die Innenminister beider Länder noch im Amt, müssten sie längst zurückgetreten sein, nicht wegen persönlicher Schuld, sondern als Akt der politischen Hygiene.

Zweifel gab es schon bisher reichlich. Neue wird der Verdacht säen, dass ein V-Mann des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes Islamisten zu Taten anstachelt, womöglich auch im Fall Amri. Schließlich hatte der Mann auch und gerade Kontakt zum Tunesier. Die Wahrheit wird in diesem Fall vermutlich nie herauskommen. Sie ist vielleicht auch gar nicht so eindeutig. Ihre Farbe ist Grau.

Ein V-Mann in NRW hat frühzeitig vor Amri gewarnt

Die Grauzone, von der hier also die Rede sein soll, ist das Feld der V-Leute. Sie müssen sich in kriminellen Milieus bewegen wie der Fisch im Wasser; je eifriger, desto unauffälliger, sie müssen von sich selbst ablenken. Die Grenze vom bloßen Mitwisser und -läufer zum „Agent Provocateur“, zum Lockspitzel, ist fließend. Aus der Nähe erfährt man mehr, aus ihr erwächst aber zumindest Kumpanei und im schlimmsten Fall sogar Komplizenschaft. Das ist eine Gratwanderung, bei der weder der V-Mann noch sein Führer immer trittsicher seien können.

Sonderermittler attestiert Behörden Versäumnisse im Fall Amri

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    Ein V-Mann in NRW hat frühzeitig vor Amri gewarnt – auch das gehört zur Wahrheit, unterstreicht die Bedeutung von Informanten, macht den ganzen Fall aber im Ergebnis nur trostloser für die Opfer und die Angehörigen. Der Verdacht, dass erst ein V-Mann den Attentäter auf die Idee brachte, mit einem Lkw in die Menge zu rasen, ist jedenfalls unerträglich und verstörend. Halten wir mal die Fakten fest: Amri war kriminell, er galt als Gefährder, es war früh bekannt, dass er für den IS anfällig war. Es gab genug Möglichkeiten, ihn vor der Terrortat aus dem Verkehr zu ziehen. Vor allem hätte man ihn zwingend konsequent ausweisen müssen.

    Im Fall Amri war nicht nur Pech im Spiel

    Es gibt für diese Kette an Versäumnissen keine Erklärung, außer dem bekannten Murphy-Prinzip, wonach alles, was schiefgehen kann, irgendwann auch schiefgehen wird. Im Fall Amri war nicht nur Pech im Spiel. Es rächten sich auch strukturbedingte Fehler. Das war schon früh klar. Nicht zufällig hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) schon im Januar eine engere Abstimmung zwischen den Ländern und mit dem Bund angemahnt. Die großen Fragen betreffen die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und die Abschiebung von Straftätern.

    Das muss die künftige Bundesregierung verbessern. Wenn wie im Fall Amri die Ausweispapiere fehlen, dann hat die kleine Ausländerbehörde in Kleve eine ungleich schwächere Verhandlungsposition gegenüber dem tunesischen Staat als ein Bundesinnenminister oder das Auswärtige Amt. Solche Strukturfragen sind wichtig und vor allem zukunftsorientiert. Aber aus Sicht der Angehörigen dürfte der Verdacht gegen den V-Mann schwerer wiegen. Er wird sie nicht ruhen lassen. Es muss geklärt werden, ob der V-Mann zu weit gegangen ist, und ob man ihn hätte abziehen müssen. Es ist die Sinnfrage. Die Frage, ob die Sicherheitsbehörden nicht nur Rauchmelder und Feuerwehr sind, sondern manchmal auch Brandbeschleuniger.