Sankt Petersburg/Berlin. Russland und Weißrussland führen das Großmanöver „Sapad 2017“ durch. Kritik und Befürchtungen weist der Kreml als „Hysterie“ zurück.

Es Der Regen hat wieder eingesetzt. Leuchtspurmunition zischt über das Schlachtfeld. Nebelschwaden ziehen auf und verbergen das Landemanöver der Fallschirmjäger hinter den feindlichen Linien. Raketenwerfersysteme wummern, Panzer- und Artilleriegeschosse fliegen durch die Luft. Dann explodieren mehrere überschwere „Totschka-U“-Raketen.

Auf dem Truppenübungsplatz Luka 150 Kilometer südwestlich von Sankt Petersburg konnten am Montag ausländische Militärattachés und Hunderte Journalisten die Feuerkraft der russischen Armee bestaunen. Auch Kremlchef Wladimir Putin ließ sich am Nachmittag einfliegen. Im dunkelblauen Anzug, eingerahmt von seinen Generälen, verfolgte er das Großmanöver „Sapad“ („Westen“), das vom 14. bis zum 20. September an der Grenze zum Baltikum und zu Polen stattfindet.

12.700 oder 100.000 Soldaten? Moskau spricht von „Hysterie“

Das Manöver, das alle vier Jahre durchgeführt wird, erstreckt sich über Übungsplätze in Russland und Weißrussland. Rund 250 Panzer und etwa 70 Flugzeuge sowie Kriegsschiffe sollen im Einsatz sein. Zudem sollen taktische Manöver der Luftwaffe in Russland geprobt werden. Nach Angaben aus Moskau nehmen 12.700 Soldaten aus beiden Ländern teil – 5500 russische und 7200 weißrussische Soldaten.

Einige westliche Staaten und die Nato gehen jedoch davon aus, dass die eigentliche Teilnehmerzahl viel höher sein könnte und Moskau und Minsk somit gegen die internationalen Spielregeln verstoßen. Demnach nenne Russland die Zahl von 12.700 nur, um Verpflichtungen zu umgehen, die es als Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eingegangen ist. Diese sehen vor, dass OSZE-Staaten bei Militärmanövern mit mehr als 13.000 Soldaten eine umfangreiche Beobachtung ermöglichen. Selbst das Überfliegen des Manövergebiets und Gespräche mit beteiligten Soldaten wären demnach erlaubt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen rechnet mit bis zu 100.000 Soldaten.

Es geht gegen die fiktiven Länder Weischnoria, Lubenia und Wesbaria

Für „Sapad“ wurde ein Szenario erdacht, bei dem die russischen und weißrussischen Streitkräfte gemeinsam gegen die drei fiktiven feindlichen Länder Weischnoria, Lubenia und Wesbaria kämpfen. Besonders die angrenzenden baltischen Staaten und Polen sind besorgt, dass ein möglicher Angriff auf die östlichen Nato- und EU-Länder geübt werden soll. Seit der Annexion der Halbinsel Krim durch Moskau im März 2014 ist die Nervosität in den Nachbarstaaten Russlands hoch. Die Angst vor weiteren Militärinvasionen geht um.

Aus diesem Grund hat die Nato insgesamt 4000 Soldaten in den drei baltischen Staaten und Polen im Rotationsverfahren stationiert. Die Bundeswehr ist mit 1000 Kräften in Litauen vertreten. Litauen warf Russland eine Verletzung seines Luftraums während des „Sapad“-Manövers vor. Den Angaben zufolge hatten sich am Sonnabend zwei Transportflugzeuge vom Typ Iljuschin IL-76 zwei Minuten ohne Erlaubnis im Luftraum aufgehalten.

Die Ukraine warnt, Russland wolle die Region destabilisieren

Auch aus Kiew kam Kritik. „Russland zielt mit dieser Militärübung einerseits darauf, die Lage an der Grenze zu den Nato-Staaten zu destabilisieren“, warnte der außenpolitische Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, Konstantin Jelissejew. Zum anderen sei davon auszugehen, dass die Regierung in Moskau russische Truppen und Waffen möglichst lange nahe der Grenze lassen werde, um sie „künftig für eine potenzielle offensive Operation“ einzusetzen.

Russland wies derlei Befürchtungen zurück. „Wir glauben, dass die geschürte Hysterie über diese Manöver eine Provokation ist“, sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow. „Alles geschieht streng gemäß des Völkerrechts und der vereinbarten Regeln.“ Moskau habe sich im Vorfeld um maximale Transparenz bemüht. Das russische Verteidigungsministerium beschwichtigte, das Herbstmanöver diene der Ausbildung russischer Truppen und sei reine Routine.

Mancher fühlt sich erinnert an die Situation im Donbass

Viele Beobachter vergleichen den Lageplan von „Sapad 2017“ mit der Situation im Donbass im April 2014, wo russische Freischärler eine separatistische Rebellenrepublik organisierten, die Russland danach militärisch stark unterstützte. „Die Russen bekämpfen bei ,Sapad 2017‘ das, was sie selbst in der Ostukraine geschaffen haben“, sagt der ukrainische Publizist Roman Tsymbaluk. „Und sie machen kurzen Prozess mit den Separatisten in Weichschnoria. Während sie von uns verlangen, mit den Rebellen im Donbass zu verhandeln.“

Mit dem Manöverfeind auf dem Truppenübungsplatz Luka verhandelt jedenfalls niemand. „Eine halbe Stunde hat es gedauert, bis die feindlichen Banden vernichtet worden sind“, ruft der völlig durchnässte TV-Korrespondent des russischen Armee-Senders Swesda ins Mikrofon. Aber dann fauchen neue Raketensalven, neue Leuchtspuren verschwinden im Regen. „Jetzt wird der Gegner endgültig erledigt“, auch der Swesda-Reporter wird wieder laut.

Politiker aus dem Westen sehen Russland als Aggressor

Im Westen begegnet man dem Geschehen mit Skepsis. „Das russische Großmanöver gibt Anlass zur Sorge“, teilte der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, mit. „Russland muss zu einer Außenpolitik zurückfinden, die auf seine eigenen legitimen Sicherheitsbedürfnisse, nicht auf Verunsicherung und Einschüchterung der Nachbarn ausgerichtet ist“, sagte der FDP-Politiker.

Nach Ansicht des CDU-Politikers Franz Josef Jung schürt Moskau gezielt Bedrohungsängste in den baltischen Staaten und Polen und bewirkt so weiteres Misstrauen im Westen. „Russland hat kein echtes Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen zum Westen und seinen Nachbarstaaten sowie am Abbau von Spannungen“, betonte er.

Die Sorge reicht bis nach Tschechien

Auch in osteuropäischen Ländern herrscht Misstrauen. „Wir sollten ganz genau aufpassen, ob nach dem Ende des Manövers wirklich alle Truppenteile wieder nach Hause fahren oder ob einige dauerhaft an den Grenzen bleiben“, kommentierte die liberale tschechische Zeitung „Hospodarske noviny“. „Wir sind von dort nicht so weit entfernt, und bekanntlich wächst der Appetit beim Essen.“ Putins politische Macht basiere auf militärischen Erfolgen – zuerst in Tschetschenien, dann in Georgien, nun in der Ukraine und in Syrien. „Und morgen, übermorgen? Wir sollten nicht glauben, dass wir niemals an die Reihe kommen können“, schrieb das Blatt.