Merkel will einheitliche Regelungen für Asylbewerber in EU
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Von Jochen Gaugele und Jörg Quoos
Berlin. Angela Merkel spricht im Interview über die Lehren aus der Flüchtlingskrise. AfD-Wähler will sie durch „gute Politik“ zurückgewinnen.
Angela Merkel regiert Deutschland seit zwölf Jahren und liegt in den Umfragen eine Woche vor der Bundestagswahl deutlich vor ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz. Trotzdem erlebt die Kanzlerin im Wahlkampfendspurt harten Gegenwind. Ein Grund: ihre Flüchtlingspolitik.
Frau Merkel, Ihnen schlägt im Wahlkampf – gerade im Osten – viel Hass entgegen. Wie erklären Sie sich das?
Angela Merkel: Das sind Menschen, die leider nur pfeifen und brüllen, aber nicht zuhören wollen. In einer Demokratie muss ich das natürlich zur Kenntnis nehmen, obwohl ich überzeugt bin, dass es gerade zur Demokratie gehört, denen zuzuhören, die andere Positionen vertreten. Mir sind dennoch auch diese Kundgebungen wichtig, denn ich möchte die vielen stärken, die trotz der Störer und Schreier kommen, weil sie zuhören und sich eine eigene Meinung bilden wollen.
Es gibt Bürger, die nicht auf Kundgebungen brüllen und trotzdem sagen: Ich möchte nicht in einem Land leben, das seine Grenzen nicht schützen kann …
Merkel: Die Außengrenzen der EU müssen wir selbstverständlich sichern können und dabei sind wir in den letzten zwei Jahren auch sehr vorangekommen. Denn das ist natürlich auch Voraussetzung dafür, weiter Freizügigkeit innerhalb der EU zu gewährleisten. Wir haben als Mitgliedsstaaten die Grenzschutzagentur Frontex zu einer Europäischen Grenz- und Küstenwache weiterentwickelt und personell gestärkt. Wir werden jetzt endlich auch ein Ein- und Ausreiseregister einführen, damit wir wissen, wer sich in der EU aufhält. Bis der Schutz der Außengrenzen insgesamt so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, ist es absolut richtig, dass es weiter Kontrollen an den entscheidenden Abschnitten der Binnengrenzen gibt.
Versprechen Sie den Bürgern, dass Deutschland seine Grenzen so lange selbst kontrolliert, bis die Sicherung der europäischen Außengrenzen funktioniert?
Merkel: Ich habe gegenüber EU-Kommissionspräsident Juncker deutlich gemacht, dass wir auf unsere nationalen Grenzkontrollen noch nicht verzichten können.
Wie lange wird es also Kontrollen an deutschen Grenzen geben?
Merkel: Solange es sachlich erforderlich ist, und das lässt sich zeitlich heute noch nicht vorhersagen.
Welches langfristige Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Flüchtlingspolitik? Deutschland wird sich durch den starken Zuzug verändern, und Sie haben jetzt sogar eine Garantie abgegeben, dass es mit Ihnen keine Obergrenze für Flüchtlinge geben wird …
Merkel: Schon 2015 haben wir begonnen, den Zugang der Flüchtlinge zu ordnen und zu steuern. Mit Erfolg, denn es kommen heute viel weniger Menschen zu uns nach Deutschland als damals. Das hängt ganz wesentlich mit den Fortschritten durch das EU-Türkei-Abkommen zusammen. Die Flüchtlinge werden heute in der Türkei besser versorgt, weil die EU hierbei mit erheblichen Finanzmitteln hilft. Auch die Zuzüge über das zentrale Mittelmeer nach Italien sind in diesem Sommer ganz erheblich zurückgegangen. Mittlerweile sterben weit weniger Menschen auf dem Meer, weil wir es geschafft haben, sehr vielen kriminellen Schleppern das Handwerk zu legen. Ich will durch die Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsländern die Ursachen der Migration verringern und Menschen in oder zumindest nahe ihrer Heimat eine Perspektive geben.
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Welches Bild haben Sie von unserer Gesellschaft in fünf Jahren?
Merkel: Es ist das Bild eines wirtschaftlich weiter erfolgreichen und sozial gerechten, weltoffenen Landes, dessen größte Stärke unverändert sein Zusammenhalt ist. Denken wir hierbei auch an das wichtige Thema Integration. Durch die Freizügigkeit innerhalb der EU sind viele Zuwanderer aus anderen Mitgliedsstaaten zu uns gekommen. Die allermeisten dieser Menschen tragen zu unserem Wohlstand und zu unserer Gesellschaft bei. All dieses geschieht auf der Grundlage unserer Werte, des Grundgesetzes, der Regeln und Traditionen unseres Zusammenlebens.
Es hat verheerende Terroranschläge gegeben in Deutschland und anderen europäischen Staaten. Einige der Attentäter waren als Flüchtlinge gekommen. Wer oder was hat da versagt?
Merkel: Der islamistische Terror ist eine Herausforderung für beinahe die ganze Welt. Er hat auch Länder wie Frankreich oder Großbritannien grausam getroffen, die viel weniger Flüchtlinge als wir aufgenommen haben. Unter den Flüchtlingen gibt es einzelne, die terroristische Taten geplant oder verübt haben; das ist schrecklich und es wird unsere Wachsamkeit noch mehr schärfen, wie auch mit Blick auf die Gefährder, die schon immer oder jedenfalls sehr lange in Deutschland leben.
Haben die deutschen Sicherheitsbehörden die Lage wieder unter Kontrolle?
Merkel: Wir waren 2015 in einer dramatischen humanitären Ausnahmesituation, und wir alle – Politik sowie Hunderttausende Haupt- und Ehrenamtliche – haben damals das Notwendige getan. Seither ist unendlich viel geschehen, um den Zugang von Flüchtlingen zu ordnen und zu steuern und die Zahl der hier Ankommenden deutlich zu reduzieren.
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Sind Sie dafür, die europäischen Standards für Asylverfahren und für die Leistungen, die Asylbewerber beziehen, anzugleichen?
Merkel: Wir brauchen mehr einheitliche Regelungen in Europa, um überall effiziente Verfahren zu haben, aber auch bei den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einschließlich ihrer Leistungsansprüche. Zu Letzterem hat das Bundesverfassungsgericht uns Vorgaben gemacht. Es kommt darauf an, diese Vorgaben mit dem Erfordernis nach mehr Einheitlichkeit in Europa in Einklang zu bringen. Die Sozialstandards innerhalb der EU sind sehr unterschiedlich. In Bulgarien liegt der Mindestlohn umgerechnet auf die Stunde bei deutlich unter 2 Euro, in Deutschland liegt er bei 8,84 Euro.
Haben Sie Zweifel, ob eine Vereinheitlichung der Leistungen für Asylbewerber in Europa mit dem Grundgesetz vereinbar wäre?
Merkel: Natürlich lässt das Grundgesetz zu, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Europa einander angeglichen werden. Wie das aber im Einzelnen genau aussehen könnte, das muss von Juristen im Detail sehr sorgfältig geprüft werden. Was immer wir in Europa aushandeln, muss rechtlich abgesichert sein.
Fühlen Sie sich eigentlich mit verantwortlich dafür, dass die AfD so stark geworden ist?
Merkel: Deutschland hat in einer humanitären Notsituation entsprechend den Werten unseres Grundgesetzes – Artikel 1 garantiert die Unantastbarkeit der Würde des Menschen – gehandelt. Ich werbe selbstverständlich auch um die Zustimmung der Kritiker dieser Entscheidungen.
Und zwar wie?
Merkel: Durch gute Politik und durch konkrete Lösung der Probleme.
Sehen Sie die AfD in vollem Umfang auf dem Boden des Grundgesetzes?
Merkel: Das können Verfassungsexperten besser als ich beurteilen. Ich befasse mich damit, wie ich die Menschen unseres Landes politisch überzeugen kann.
Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich hat Emmanuel Macron die Rechtsextremisten besiegt. Welches persönliche Verhältnis haben Sie zum neuen französischen Staatsoberhaupt entwickelt?
Merkel: Ich freue mich sehr, dass Emmanuel Macron so überzeugend gewonnen hat. Wir arbeiten gut und vertrauensvoll zusammen, unser persönliches Verhältnis ist ausgezeichnet. Ich wünsche ihm für seine großen Reformvorhaben viel Erfolg. Deutschland und Frankreich können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass noch mehr Bürger wieder Lust auf Europa haben.
Macron strebt eine „Neugründung Europas“ an. Unterstützen Sie ihn dabei?
Merkel: Ich unterstütze alle Bemühungen, die dazu dienen, möglichst viele Menschen von der Idee der europäischen Einigung zu überzeugen, denn sie ist für unsere Zukunft von überragender Bedeutung.
Die Regierungen in Berlin und Paris bereiten eine Reform der Eurozone vor. Was haben Sie vor, um die Währung zu stabilisieren?
Merkel: Wenn wir ehrlich sind, haben wir zwar eine gemeinsame Währung, aber eine noch immer sehr unterschiedliche Wirtschaftskraft der einzelnen Länder. Ich finde deshalb den französischen Gedanken einer starken wirtschaftspolitischen Koordinierung im Sinne engerer Abstimmung und Übereinstimmung sehr interessant. Vorbildliche Regelungen zum Beispiel, die in einzelnen Mitgliedsstaaten funktionieren, könnten auf andere Länder übertragen werden. Das kann für das Arbeitsrecht genauso gelten wie für effiziente öffentliche Verwaltungen, gute Rahmenbedingungen für Unternehmer oder die Forschungspolitik. Wenn wir uns in der Sache verständigt haben, werden wir mühelos die richtigen politischen Strukturen dafür finden.
Woran denken Sie?
Merkel: Zum Beispiel an eine finanzielle Unterstützung bei Reformvorhaben in einzelnen Ländern.
Können Sie sich auch europäische Steuern vorstellen?
Merkel: Nein, überzeugende Pläne für eine Europasteuer sehe ich im Augenblick nicht.
Wie lange dauert dieser Augenblick?
Merkel: Wir stehen am Anfang einer wirtschaftspolitisch wichtigen Diskussion, aber ich beabsichtige nicht, eine neue Steuer einzuführen.
Können Sie ausschließen, dass es zu einer Vergemeinschaftung der Schulden in Europa kommt, solange Sie Bundeskanzlerin sind?
Merkel: Wir arbeiten an einer Bankenunion und an einem Europäischen Währungsfonds, um in Krisensituationen unter strengen Bedingungen handeln zu können. Davon zu unterscheiden wäre eine Vergemeinschaftung der Schulden, die wir ablehnen. An diesem Grundsatz ändert sich nichts.
Ihr Vorgänger Gerhard Schröder strebt in den Aufsichtsrat des staatlichen russischen Ölkonzerns Rosneft. Gehört sich das für einen Altkanzler?
Merkel: Ich bedauere seine Haltung in dieser Frage, weil es sich um ein Unternehmen handelt, das wegen des Ukrainekonflikts auf der Sanktionsliste der EU steht.
Die Forderungen nach einer Lockerung der Russland-Sanktionen werden lauter. Unter welchen Bedingungen sind Sie dazu bereit?
Merkel: Nach dem Minsker Abkommen ist ein Waffenstillstand die Voraussetzung dafür, in einen politischen Prozess einsteigen zu können. Es müssen substanzielle Fortschritte erzielt sein, die wir leider noch nicht haben. Ich finde den Vorschlag des russischen Präsidenten Putin interessant, zum Schutz der OSZE-Beobachter auch UN-Truppen einzusetzen. Vor einigen Tagen habe ich mit Präsident Putin darüber gesprochen, dass diese UN-Truppen überall Zugang haben müssen, wo die OSZE stationiert ist, also im gesamten Gebiet Donezk/Lugansk. In diese Richtung sollten wir weiterarbeiten, aber das sind zarte Pflänzchen, die zu einer Lockerung der Sanktionen noch keinen Anlass geben.
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Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner will Moskau die annektierte Halbinsel Krim als „dauerhaftes Provisorium“ überlassen. Haben Sie ihn darauf angesprochen?
Merkel: Nein. Ich sehe die Frage der Krim anders als Herr Lindner. Die Annexion ist völkerrechtswidrig und darf nicht hingenommen werden.
Bleibt die FDP Ihr Wunschpartner?
Merkel: Wir kämpfen für ein starkes Ergebnis von CDU und CSU und führen keinen Koalitionswahlkampf. Wir sagen jedoch klar, dass es eine Zusammenarbeit mit der Linken oder der AfD mit uns nicht geben wird. Die SPD dagegen schließt Rot-Rot-Grün nicht aus. Unser Land kann sich in Zeiten wie diesen aber keine Experimente erlauben, sondern braucht auch in Zukunft Stabilität und Sicherheit.
CSU-Chef Horst Seehofer bringt Parteifreunde wie Joachim Herrmann und Karl-Theodor zu Guttenberg für Kabinettsposten ins Gespräch. Ist das der neue Stil, dass vor der Wahl schon Regierungsposten verteilt werden?
Merkel: In den Gesprächen, die ich führe, werden keinerlei Posten verteilt. Ich arbeite sehr gerne mit Joachim Herrmann zusammen und freue mich, dass die CSU ihn zum Spitzenkandidaten gemacht hat.
Würden Sie sich über eine Rückkehr zu Guttenbergs in die Politik freuen?
Merkel: Ich schätze Karl-Theodor zu Guttenberg und finde es gut, dass er im Wahlkampf auftritt. Ich treffe mich mit ihm auch von Zeit zu Zeit, und wir haben immer gute Gespräche.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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