Strassburg. EU-Kommissionschef Juncker hat eine kraftstrotzende Ansprache zur Lage der Union gehalten. Es fehlte dabei aber die zentrale Botschaft.

Wie sich die Zeiten ändern. Noch vor einem Jahr hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker der Gemeinschaft ein düsteres Zeugnis ausgestellt. Der Klub der 28 sei in einer „existenziellen Krise“, diagnostizierte der oberste Berufseuropäer. Seine Grundsatzrede war geprägt durch den Brexit-Blues: Die Sorge vor einem Dominoeffekt weiterer Abspaltungen grassierte auf dem ganzen Kontinent. Einige hörten bereits das Totenglöcklein der EU läuten.

Der neue Juncker klingt völlig anders. Seine Ansprache zur Lage der Union war ein kraftstrotzender Wurf, der Europa eine glänzende Zukunft bescheinigte. Dabei machte sich der Kommissionspräsident für eine maximalistische EU stark – und schoss über das Ziel hinaus.

Gemeinsame Währung nicht zwingend Segen

Die Forderung, den Euro in allen Mitgliedstaaten einzuführen, ist naiv – zumindest vorschnell. Zwar hat sich die Gemeinschaft vertraglich dazu verpflichtet. Doch Gründlichkeit rangiert vor Schnelligkeit. Die Eurozone ist in den vergangenen Jahren durch schwere Turbulenzen gegangen. Die Staatsschulden- und Wirtschaftskrise in Südeuropa hat gezeigt: Eine gemeinsame Währung ist nicht notwendigerweise ein Segen für alle.

In Ländern, die über ihre Verhältnisse gelebt haben, führt sie zu Verwerfungen. Diese profitieren dann zwar von der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), weil Unternehmen und Verbraucher billige Kredite bekommen und somit die Konjunktur (ein bisschen) ankurbeln. In anderen Ländern wie in Deutschland frisst der Spendierkurs der EZB wiederum das Vermögen der Sparer auf. Daher wäre es klüger, mit einer Vergrößerung der Eurozone zu warten. Kommen Länder wie Bulgarien, Rumänien oder Kroatien dazu, drohen neue, unnötige Stresstests.

Junckers Entwurf fehlt zentrale Botschaft

Auch eine Ausweitung des Schengen-Raums mit dem Verzicht auf Grenzkontrollen ist verfrüht. In der Flüchtlingskrise und im Anti-Terror-Kampf wurden in den vergangenen Jahren so viele Defizite deutlich, dass das Motto gilt: Stabilität der gegenwärtigen EU und Eurozone geht vor hastiger Erweiterung.

Junckers Rede hat zwar wertvolle Elemente. So ist die Idee vernünftig, außenpolitische Entscheidungen der EU künftig mit relativer Mehrheit zu fällen statt mit Einstimmigkeit, die nur schwer zu erreichen ist. Das verleiht der Gemeinschaft mehr Gewicht.

Auch der Vorschlag, Unternehmen in sicherheitsrelevanten Branchen gegen eine Übernahme durch ausländische Investoren zu schützen, macht Sinn. Doch insgesamt fehlt Junckers Entwurf die zentrale Botschaft, die auch in breiten Bevölkerungskreisen auf Resonanz stoßen würde.

Fünf Szenarien über die Zukunft der EU

Im Frühjahr schien der EU-Kommissionschef noch mehr strategischen Weitblick an den Tag zu legen. In einem Weißbuch stellte er fünf Szenarien über die Zukunft der EU vor. Eines davon besagte: Konzentration auf das Wesentliche. Die Gemeinschaft solle sich auf Kernbereiche beschränken wie Sicherheit, Migration, Grenzschutz, Verteidigung, Handel und Innovation. Also kein blinder Erweiterungseifer, sondern zielgenaue Integration in Schlüsselfeldern.

Es ist kein Zufall, dass Juncker seine Vorschläge vor der Bundestagswahl unterbreitete. Nach dem 24. September spielt die Musik woanders: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und – so wie es derzeit aussieht – Bundeskanzlerin Angela Merkel werden um einen Kompromiss für eine vertiefte Zusammenarbeit der EU ringen. Juncker hat wohl versucht, mit seinen Vorstößen eine Art historisches Vermächtnis zu hinterlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er damit in die Geschichtsbücher eingeht, ist jedoch gering.