Berlin. Heiner Geißler war als CDU-Generalsekretär stilbildend. In allen Lagern erwarb er sich Respekt. Jetzt starb er im Alter von 87 Jahren.

In der Öffentlichkeit hat er sich zuletzt bei der Beerdigung von Altkanzler Helmut Kohl blicken lassen. Das ist erst zwei Monate her. Heiner Geißler ging zwar leicht gebeugt, aber das führte man bloß auf sein Alter zurück. Keinesfalls sah er wie ein Mann aus, der schwer erkrankt war. Ein Trugschluss. Am Dienstag ist der frühere CDU-Politiker im Alter von 87 Jahren gestorben.

Einige Tage zuvor hatte er sich aus einer Klinik nach Hause bringen lassen, um im Kreis seiner Familie im pfälzischen Gleisweiler zu sterben. Geißler war in den 80er-Jahren, in der Kohl-Ära, eine dominante Figur der Bonner Republik und ist bis heute für jeden Generalsekretär in jeder Partei der Maßstab, in diesem Amt gewissermaßen die Goldkante. Im Laufe der Jahre erwarb er sich Respekt in allen Lagern. „Er wird uns fehlen“, bekannte denn auch der Linken-Politiker Oskar Lafontaine.

Geißler gehörte zu den Menschen, die scheinbar zehn, 20 Jahre oder länger unverändert aussehen. Sein Gesicht war durchzogen von gefühlt hundert Lach- und Denkfalten. Und wenn der Mann mit den spitzen Ohren und den hellwachen Augen sprach, dann meist mit spöttischem Unterton, zwischen jeder Feststellung streute er ein „nicht wahr“ ein. Noch 2016 mischte er im Landtagswahlkampf in Rheinland-Pfalz mit. Geißler achtete auf sich, betrieb Sport, fuhr sein Auto noch selbst und war in jeder Beziehung fit, vor allem: geistig fit.

„Man darf nicht faul werden, das gilt auch für den Sex“

Die Warnung, „wer rastet, der rostet“, hatte er rigoros beherzigt. Dem FAZ-Sportteil gab er einmal ein denkwürdiges Interview, in dem er empfahl im Alter nicht mit dem Sex aufzuhören. „Das ist ganz wichtig für ältere Leute. Man darf nicht faul werden, das gilt auch für den Sex.“

Stilbildend war Geißler – zwölf Jahre lang – als CDU-Generalsekretär. Er war maßgeblich daran beteiligt, „aus der Honoratiorenpartei CDU eine echte Mitglieder- und Programmpartei zu machen“, wie die heutige Parteichefin und Kanzlerin Angela Merkel würdigte.

Merkel trauert um Heiner Geißler

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    Er war zweitens ein begnadeter Stratege, der Begriffe erfand oder besetzte. Der Trick: „Wenn man die Begriffe für die eigene Sache besetzt, dann macht man den politischen Gegner sprachlos.“ Er war drittens ein Vordenker und Modernisierer, der für die Interessen von Frauen und Familien warb, als es für das Gefühl der Mehrheit der CDU, damals eine Männerriege, noch exotisch klang. Und er war für Kohl, viertens, ein Kriegselefant, ein unerträglicher Polemiker, der mit Gegnern gnadenlos umsprang.

    Später engagierte er sich für die Globalisierungskritiker von Attac

    Die SPD nannte er 1983 die „fünfte Kolonne“ der anderen Seite – gemeint war die Sowjetunion. Von ihm stammt damals mitten in der turbulenten Nachrüstungsdebatte auch der Satz, erst der Pazifismus der 30er-Jahre habe Auschwitz möglich gemacht; nur eine von vielen Kontroversen, die Geißler ausgelöst hat. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt nannte ihn den „schlimmsten Hetzer seit Goebbels“.

    Dass man ihm heute dennoch allseits nachtrauert, ist nicht der kollektiven, gesellschaftlich üblichen Heuchelei bei Todesfällen geschuldet. Vielmehr hat Geißler einen langen Weg zurückgelegt und eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen, von Links betrachtet: Vom Saulus zum Paulus. Zuletzt war der Christdemokrat bei den Globalisierungskritikern von Attac engagiert und kritisierte wie kaum ein anderer „die Fehlentwicklungen des globalen Kapitalismus“, wie Lafontaine sagte. Geißlers Heimatzeitung, die „Rheinpfalz“, nennt ihn einen „Autonomen“. Das passt: Ein unabhängiger Kopf.

    Für Kohl gehörte Geißler zu den Putschisten in der CDU

    Das musste auch Kohl erfahren, der ihn 1977 zum Generalsekretär gemacht hat, wo er zunächst alle für den Chef gedachten Pfeile auf sich zog. Geißler führte das Amt für, unter – und zuletzt zunehmend neben Kohl. Im Jahr 1989 witterte der Kanzler den Generalsekretär an der Spitze einer Bewegung von Putschisten. Es kam zum Bruch, zum Zerwürfnis über die Ausrichtung der Partei. Die Entfremdung hatte womöglich früher eingesetzt, vermutlich sogar schon mit Kohls Machtübernahme 1982.

    Danach zählte vor allem eines: bedingungslose Gefolgschaft. Geißler aber wollte die Partei weiter entwickeln, programmatisch wie personell. Vor allem propagierte er die Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft. Geißlers Loyalität gehörte der CDU, nicht dem Vorsitzenden. „Wir waren sehr befreundet, und diese Freundschaft ist in der Tat der Macht geopfert worden“, hat Geißler später erzählt.

    Geißler hat unzählige Häutungen hinter sich. Er war ein hochreligiöser Mensch und als junger Mann sogar Novize bei den Jesuiten, aber zuletzt konnte er nicht mehr an Gott glauben, „ich habe große Zweifel“. Er erfand die Lagertheorie und verwarf sie ein paar Jahre später dann wieder, als er Anfang der 90er-Jahre in seinem Buch „Zugluft“ den Unionsparteien empfahl, neue Wählerschichten nicht länger nur im eigenen Lager, in der rechten Ecke, zu suchen, sondern im Lager von SPD und Grünen – genau das tat Merkel ein Jahrzehnt später.

    Merkels Flüchtlingspolitik hat ihn versöhnlich gestimmt

    In den vergangenen 20 Jahren vertrat er in der Union bestenfalls Minderheitenpositionen. Er warb für die multikulturelle Gesellschaft, engagierte sich für Schwule und Lesben und empfahl Asyl für den Whistleblower Edward Snowden.

    Mit Sicherheit hat er oft mit der CDU gefremdelt. Aber gesichert ist auch, dass Merkels Flüchtlingspolitik ihn wieder versöhnlich gestimmt hat. Was die CDU-Kanzlerin getan habe, sei „eine glanzvolle und gute Leistung“ gewesen, ein Exempel christlicher Gesinnung, hat er gesagt. Und an die Adresse der Obergrenzen-Partei CSU gerichtet, ergänzte er: „Man darf nicht wegen einiger Prozentpunkte die Seele der Partei verraten!“

    Geißlers Karriere ist eng mit Kohl verknüpft. Der Pfälzer hatte ein Gespür für gute, quirlige, leidenschaftliche Leute. Der Aufstieg Kohls wurde sekundiert von Mitstreitern wie Geißler, Kurt Biedenkopf, Richard von Weizsäcker oder auch Norbert Blüm, ausnahmslos Charakterköpfe, intellektuell herausragend, rhetorisch brillant, streitbar, selbstbewusst; jeder von ihnen war ihm eine Stütze und ging später auf Distanz.

    Geißler studierte Rechtswissenschaften

    Nach den Erziehungsjahren studierte Geißler Rechtswissenschaften, legte die Staatsprüfungen ab und wurde promoviert. Das Thema passte schon damals zum späteren Image eines Provokateurs: „Das Recht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.“

    Kohl machte Geißler 1967 zunächst zu seinem Sozialminister in Rheinland-Pfalz, wo er unter anderem ein Begründer der Sozialstationen für den ambulanten Kranken- und Altenpflegedienst war, das erste Kindergartengesetz, das erste Krankenhausreformgesetz sowie das erste Sportförderungsgesetz in der Geschichte der Bundesrepublik durchsetzte. Später folgte er Kohl nach Bonn, war der Manager von drei Wahlkämpfen – 1980, 1983 und 1987 – und von 1982 bis 1985 in Personalunion zugleich Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Er thematisiert die strukturelle Armut im Sozialstaat, ordnete den Zivildienst neu und führte Erziehungsgeld und -urlaub ein.

    Am liebsten ging er in den Bergen klettern

    2002 schied Geißler aus dem Bundestag aus. Danach schrieb er Bücher und ließ sich als Schlichter in Tarifauseinandersetzungen einspannen. Zuletzt vermittelte der in Oberndorf am Neckar geborene Geißler im Streit um das umstrittene Bahnprojekt „Stuttgart 21“. „Mit seiner Vermittlerrolle in Konflikten wie bei S21 hat er mit die Grundlage für unsere Politik des Gehörtwerdens gelegt“, würdigte Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

    Geißler war ein Tausendsassa, er engagierte sich für Afrika, unterstützte Attac, vor allem war er mit Herz und Seele Sozialpolitiker. Und ein Abenteurer. Im Jahr 2000 war er in den Nuba-Bergen, im nördlichen Sudan, zusammen mit Norbert Blüm, um die einheimische Bevölkerung zu besuchen. Am liebsten aber ging er mit seinen drei Söhnen in den Bergen klettern, für ihn eines der letzten großen Abenteuer und „der beste und schönste Sport, den man treiben kann“. Klettern und auch Gleitschirmfliegen – das sei eine Kunst.

    Beim Gleitschirmfliegen ist er 1992 schwer gestürzt, er landete in einer Kiefer, fiel an die 20 Meter und brach sich mehrere Lendenwirbel. Der herbeigerufene Rettungsarzt war zufälligerweise sein eigener Sohn Michael. „Glücklicherweise stand ich so unter Adrenalin, dass ich völlig automatisch gearbeitet habe“, erzählte er in einem Interview und auch, dass der alte Herr sich eigentlich zu viel zumute. „Aber er macht ja, was er will, egal was sein Sohn oder Arzt ihm sagt.“ Jetzt ist der Unerschrockene und Unverwüstliche tot: Heiner Geißler, Vor- und Querdenker, Herz-Jesu-Sozialist, Erneuerer, Provokateur, Polemiker, Philosoph, Lebenskünstler, Kumpel, Kritiker, Kämpfer.