Wolgast. Pfiffe und Gemüse-Attacken: Merkel schlägt im Osten unverhüllte Wut entgegen. Wer sind die Gegner auf der Straße? Eine Spurensuche.

Schon wieder Tomaten. Als im vorpommerschen Wolgast am Freitagabend weiche Wurfgeschosse ihre Limousine treffen, muss Angela Merkel (CDU) die Situation bekannt vorgekommen sein. Schließlich hatten Unbekannte erst wenige Tage zuvor bei einem Auftritt in Heidelberg mit Tomaten nach der Kanzlerin geworfen. Merkel bleibt gelassen. Und auch die immer wiederkehrenden „Hau ab“-Rufe und „Merkel muss weg“-Parolen sind ihr inzwischen vertraut.

Wenige Wochen vor der Bundestagswahl schlägt Merkel bei ihren Auftritten vor allem im Osten der Republik zum Teil unverhohlener Hass entgegen. Trillerpfeifen und Buhrufe: Egal wohin sie kommt, ihre Gegner sind schon da – und sie sind wütend. In Bitterfeld in Sachsen-Anhalt war es so, ebenso in Finsterwalde in Brandenburg und im sächsischen Torgau.

AfD könnte größte Oppositionspartei werden

Jedes Mal sind es Szenen, die an Pegida erinnern oder an den 3. Oktober des vergangenen Jahres, als Merkel und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in Dresden wüst beschimpft worden waren. Es sind auch Szenen, die jenen recht zu geben scheinen, die da-
mit rechnen, dass die AfD als drittstärkste Kraft in den Bundestag einziehen wird.

Unrealistisch ist das nicht: In den Umfragen liegen AfD, FDP, Linke und Grüne dicht beieinander zwischen acht und elf Prozent. Sollte es eine Neuauflage der großen Koalition geben, könn-
ten die Spitzenkandidaten Alexander Gauland und Alice Weidel die AfD sogar als größte Oppositionspartei in den Bundestag führen.

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    Gellende Pfiffe vor der Halle

    Wo die „Hau ab“-Rufer sich einfinden, ist die AfD meist nicht weit. Auch in Wolgast – 12.000 Einwohner, einen Steinwurf entfernt von Usedom – ist die Partei vor Ort. Der AfD-Wahlkampfsong, der aus den mitgebrachten Lautsprechern schallt, konkurriert mit den Rednern der NPD nebenan.

    Rund 200 Menschen stehen an diesem Abend auf der Straße zwischen dem Jobcenter und der Turnhalle, in der Merkel spricht. Drinnen haben sie die Basketballkörbe an die Decke geklappt, Bänke und Stehtische aufgestellt. Merkel spricht über Bildung und Renten. Draußen stehen sie im leichten, aber andauernden Regen und empfangen jeden, der die Halle betritt oder verlässt mit gellenden Pfiffen. Polizisten trennen die Merkel-Gegner von CDU-Anhängern, die sich auf der anderen Straßenseite für eine Raucherpause aus der Halle gestohlen haben.

    Kein Vertrauen, dass die Wahl etwas ändern wird

    Peter Hebenstreit und Loredana Lüdicke wollten eigentlich drinnen sein, doch das Paar kam nicht mehr rein – Einlassstopp. Nun stehen sie draußen zwischen Rentnern mit Regenschirmen und AfD-Anhängern in Funktionsjacken. Hebenstreit filmt mit dem Handy.

    Merkel bei einem Auftritt in Barth (Mecklenburg-Vorpommern).
    Merkel bei einem Auftritt in Barth (Mecklenburg-Vorpommern). © REUTERS | FABRIZIO BENSCH

    Merkel sei „keine schlechte Person“, findet Lüdicke, und auch gegen Flüchtlinge habe sie nichts, sagt die 19-Jährige. Trotzdem, zufrieden sind die beiden mit der Politik der Kanzlerin nicht. „Es ändert sich ja nichts“, sagt Hebenstreit, 23. „Vielleicht hat sich bei denen was getan auf ihren großen Gipfeltreffen, aber wir merken davon nichts.“ Was sie stattdessen wahrnehmen, ist ihre eigene Realität. Seit Monaten suchen die beiden eine Wohnung – und finden keine. „Mal sind wir zu jung, heißt es, mal sind die Wohnungen für uns zu teuer“, erzählt die 19-Jährige. „Dabei arbeiten wir beide“, sagt Hebenstreit. Das Vertrauen, dass ein erneuter Sieg Merkels daran etwas ändern würde, ist gering. Also die selbst ernannte Alternative wählen? Nein, die AfD sei keine Option – „so rechts bin ich nicht“, sagt Lüdicke.

    Andere haben solche Skrupel nicht. „Arno aus Wolgast“, wie er sich vorstellt, ist 64 und mit seinem silbernen Elektromobil zur Demo gekommen. Seit er in seiner Wohnung einmal umgefallen ist, kann er nicht mehr lang laufen – Oberschenkelhalsbruch, dazu Probleme mit den Bandscheiben. Arbeiten, sich etwas hinzuverdienen zu 300 Euro Rente kann er nicht mehr, sagt er. „Mein Leben“, sagt Arno, „ist scheiße.“

    AfD war schon in Mecklenburg-Vorpommer erfolgreich

    Der 64-Jährige weiß bereits, dass er am 24. September die AfD wählen wird. „Zu denen habe ich das meiste Vertrauen“, andere Parteien hätten ihn im Stich gelassen. Es wird das erste Mal sein, dass er, „alter DDR-Bürger“, überhaupt an einer Bundestagswahl teilnimmt.

    Die AfD kann im Nordosten auf viele Wähler wie Arno hoffen. Schon bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern im vergangenen Jahr war sie erfolgreich. Mit 20,8 Prozent zogen die Rechtspopulisten ins Schweriner Schloss ein. In dem Landtagswahlkreis, in dem auch Wolgast liegt, holten sie 35 Prozent. Auf dem Gebiet des Bundestagswahlkreises, in dem der Ort liegt, gewann die AfD drei Direktmandate im Landtag.

    Jetzt hofft sie, diese Erfolge auch am 24. September wiederholen zu können. Seit 1990 stellt die CDU hier die Direktkandidaten, jetzt ist der Sitz in Gefahr. Auch deshalb ist Merkel in Wolgast – jede Stimme in der Halle, aber auch davor, zählt.

    Laute „Haut ab“-Rufe übertönen alles

    Vielleicht ahnt die Kanzlerin auch, dass nicht alle, die da vor der Tür stehen, sich wirklich sicher sind, dass sie „weg muss“. So wie Sarah, 18, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Sie ist mit Freunden gekommen, um sich „alles mal anzugucken“. Nun steht sie im Regen, die langen Haare kleben an der Stirn, und findet es „ganz schön heftig“. Obwohl sie wählen darf, werde sie vielleicht noch warten bis zum nächsten Mal, sagt sie. Sarah will noch etwas hinzufügen, doch in dem Moment geht die Tür auf, ein paar Besucher kommen aus der Halle. Sarahs Überlegungen zur Wahl gehen unter in einem Chor aus Pfiffen und „Haut ab“.