Köln. Erdogan hat dazu aufgerufen, bei der Bundestagswahl nicht für CDU, SPD oder Grüne zu stimmen. Wie kommt das bei Deutsch-Türken an?

  • Der türkische Präsident Erdogan hat Deutsch-Türken einen Rat zur Bundestagswahl gegeben
  • Sie sollten nicht für die „Türkeifeinde“ CDU, SPD oder Grüne stimmen, empfahl Erdogan
  • Ein Experte meint, dass sich nicht viele Betroffene von der Aussage werden leiten lassen

Mitten im Streit zwischen Berlin und Ankara geraten unfreiwillig die türkischstämmigen Wähler in den Blickpunkt. Rund zwei Wochen vor der Bundestagswahl stellen sich viele in Deutschland die Frage: Fällt der Aufruf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, nicht für die „Türkeifeinde“ CDU, SPD oder Grüne zu stimmen, auf fruchtbaren Boden? Wie kommt das an bei den Menschen mit türkischem Hintergrund und deutschem Pass, die ihr Kreuz am 24. September machen dürfen. Bis zu 900.000 Wahlberechtigte gibt es nach unterschiedlichen Angaben.

Die Leute werden sich nicht massenhaft von Erdogans Aufruf beeinflussen lassen, glaubt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI). „Es wird wohl einige geben, die sich bei ihrer Wahlentscheidung davon leiten lassen, aber keine Scharen.“ Die Stiftung in Essen geht von etwa 700.000 Wahlberechtigten mit türkischem Hintergrund aus, von denen die meisten – etwa 189.000 – in Nordrhein-Westfalen leben, viele auch in Berlin und einigen Zentren in Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg.

Deutsch-Türken wählten bisher vor allem die SPD

Ulusoy erläutert: „Man kann das auch als einen Wahlaufruf von Erdogan verstehen, kleine Parteien mit türkischen Wurzeln zu wählen.“ Natürlich Erdogan-Unterstützer. Also die Allianz Deutscher Demokraten (ADD), die der türkischen Regierungspartei AKP nahesteht – und nur in NRW antritt. Oder die BIG-Partei, die aber die Bundestagswahl boykottiert.

Zwar seien Türkischstämmige in Deutschland mehrheitlich eher konservativ, hätten aber dennoch in der Vergangenheit überwiegend links gewählt, vor allem die SPD, schildert der Essener ZfTI-Experte. „Sie haben aus ihrer Migrationssituation heraus entschieden, welche Partei ihnen hier am engagiertesten erschien.“

Viele waren als Arbeiter gewerkschaftlich organisiert und über lange Jahre hinweg an die Sozialdemokraten gebunden. Heute sind zahlreiche Menschen vor allem aus zweiter und dritter Migrantengeneration als Mitglieder unterschiedlicher Parteien engagiert und mischen politisch aktiv mit.

Türkischer Verband ruft zur Abstimmung auf

Kazim Kaya, Chef der türkischen Oppositionspartei CHP in Baden-Württemberg, glaubt schon, dass sich einige von Erdogans Aufruf beeinflussen lassen, denn: „Er hat hier durchaus Anhänger.“ Wähler Mehmet meint: „Erdogan hat mit seiner Kritik an den großen deutschen Parteien Recht.“ Die führenden politischen Kräfte in Berlin seien zu negativ gegenüber der Führung in Ankara eingestellt, meint der 27-jährige Automechaniker aus Mannheim.

Erdogans Aufforderung komme einem indirekten Boykottaufruf der Bundestagswahl gleich, kritisiert die Migrantenorganisation Föderation Deutscher Arbeitervereine (DIDF). „Diese Aussagen wirken sich negativ auf unser gemeinsames Zusammenleben aus“, betont der Kölner Dachverband von mehr als 35 Vereinen aus der Türkei.

„Wir wählen eh, das, was wir für richtig halten“

Erdogan versuche, die deutsch-türkischen Wähler zu seinen „Marionetten“ zu machen. Umso mehr sollten alle zur Wahl gehen. Auch der Zentralrat der Muslime ruft zur Abstimmung auf.

Das sind die Streitpunkte im deutsch-türkischen Verhältnis

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    Eher entspannt sieht Yusuf (54) aus Berlin die Lage. Zu Erdogans Einmischung meint er nur: „Ach, lass ihn doch reden. Wir wählen eh das, was wir für richtig halten.“ Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoglu, ist einerseits zuversichtlich: „Erdogans Versuch, auf diese Weise Einfluss auf die Wahl zu nehmen, dürfte die meisten nicht abhalten, zur Wahl zu gehen.“

    Aber: Dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Herausforderer Martin Schulz der Türkei nun die Tür zu EU-Beitrittsverhandlungen zuschlagen wollten, könne Wahlbeteiligung kosten. Wenn enttäuschte türkischstämmige Männer und Frauen in zwei Wochen nicht votieren, werde das womöglich die rechten Ränder stärken. Sofuoglu geht von rund 900.000 Wahlberechtigten aus. Sie seien zwar nicht entscheidend. Ihre Stimme habe aber trotzdem Gewicht. Bei einzelnen Direktkandidaten könnten sie möglicherweise zum Zünglein an der Waage werden. (dpa)

    Diese Deutschen waren in türkischer Haft

    Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation.
    Der Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, saß seit Ende Februar 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft. Nach 367 Tagen wurde er aus türkischer Haft entlassen. Dem deutsch-türkischen Journalisten und Publizisten wurde wie zahlreichen anderen Medienvertretern Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen. Unter dem nach dem Putschversuch im Sommer 2016 von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhängten Ausnahmezustand gehen die türkischen Behörden rigoros gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Die gilt in der Türkei als Terrororganisation. © dpa | Soeren Stache
    Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte.
    Deniz Yücel und seine Frau Dilek Mayatuerk kurz nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Die Freilassung Yücels wurde von einem Gericht angeordnet, nachdem die türkische Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgelegt hatte. © REUTERS | HANDOUT
    #FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels.
    #FreeDeniz: Diese Solidaritätsbekundung – aufgedruckt auf einem T-Shirt – forderte die Freilassung Yücels. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance /
    Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt.
    Die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu saß fast acht Monate in der Türkei in Untersuchungshaft. Sie war am 30. April 2017 festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Ihr wird laut Haftbefehl vorgeworfen, Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. © dpa | Lefteris Pitarakis
    Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt.
    Mehr als fünf Monate nach Festnahme der Mutter eines Sohnes startete am 11. Oktober der Prozess. Am 18. Dezember 2017 entschied dann ein Gericht: Tolu darf die U-Haft verlassen, die Türkei aber nicht verlassen. Ende August dann die Erlösung: Tolu darf zurück nach Deutschland. Die Ausgangsperre wurde aufgehoben. Der Prozess werde allerdings weitergeführt. © Facebook/Mesale Tolu | Facebook/Mesale Tolu
    Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben.
    Ihr ebenfalls wegen Terrorverdacht inhaftierter Ehemann Suat Corlu, der im selben Verfahren angeklagt ist, wurde Ende November 2017 aus türkischer Haft entlassen. Er muss vorerst in der Türkei bleiben. © dpa | Linda Say
    Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen.
    Nach mehr als drei Monaten Untersuchungshaft wurde der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner am 25. Oktober 2017 entlassen. Ein Gericht in Istanbul hatte die Freilassung ohne Auflagen beschlossen. Auch die mitangeklagten türkischen Menschenrechtler, die in Untersuchungshaft waren, wurden bis zu einem Urteil in dem Verfahren auf freien Fuß gesetzt, teilweise aber unter Auflagen. © dpa | Emrah Gurel
    Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“
    Steudtners (2 v.r.) schwedischer Kollege, Ali Gharavi (2 v.l.), durfte auch das Hochsicherheitsgefängnis Silivri verlassen. Steudtner sagte vor Journalisten: „Wir sind allen sehr dankbar, die uns rechtlich, diplomatisch und mit Solidarität unterstützt haben.“ © REUTERS | OSMAN ORSAL
    Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden.
    Steudtner war am 5. Juli 2017 bei einem Workshop auf den Istanbuler Prinzeninseln festgenommen worden. © dpa | Privat
    Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören.
    Der türkischstämmige Unternehmer Özel Sögüt aus Siegen ist im Dezember 2016 verhaftet worden. Mittlerweile ist er aus dem Gefängnis entlassen worden, darf aber die Türkei nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören. © privat | privat
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