Berlin/Ebrach. Die Zahl der Extremisten in Haft wächst. Das Risiko: Radikale könnten Mitgefangene anwerben. Für JVAs wird es teuer, sich anzupassen.

Die Szene ist in Aufruhr. Die Nachrichten hatten sich überschlagen: Polizisten führten den Prediger „Abu Walaa“ in Hildesheim ab, ein mutmaßlicher Top-Helfer des selbsternannten „Islamischen Staates“ in Deutschland. Kurz darauf durchsuchten Beamte Wohnungen von Organisatoren der Koran-Stände von „Lies!“. Knapp ein Jahr ist der Schlag von Polizei und Staatsanwaltschaft gegen führende Islamisten in Deutschland her. Doch damit war nicht Schluss.

Seit Monaten kommt es immer wieder zu Razzien und Verhaftungen. Laut einer Umfrage dieser Redaktion bei den Justizministerien der Länder sitzen derzeit rund 300 verurteilte oder mutmaßliche Islamisten in deutschen Gefängnissen – die meisten in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Berlin. In Bayern sind derzeit 55 Gefangene mit islamistischen Bezügen inhaftiert. In Hessen ist es nach Angaben des Ministeriums eine „mittlere zweistellige Zahl“, in Nordrhein-Westfalen sind 46 Islamisten in Haft, in Berlin 41, in Hamburg sind es zwölf, die den Islam radikal auslegen. Zudem haben die Behörden mehrere Dutzend Verdachtsfälle auf dem Schirm.

Mehr als 500 Terror-Prozesse in 2017

Manche der Extremisten sind bereits verurteilt, andere sitzen in Untersuchungshaft. Nicht alle der Islamisten sind auch wegen extremistischer oder terroristischer Straftaten verurteilt, viele auch wegen anderer Delikte, etwa schwere Körperverletzung oder Drogenkriminalität.

Und die Zahl der gefangenen Extremisten wird weiter steigen, denn derzeit laufen noch etliche Verfahren etwa gegen Rückkehrer aus den Kriegsgebieten in Syrien und Irak. Generalbundesanwalt Peter Frank rechnet mit 500 bis 600 Prozessen gegen Terror-Beschuldigte allein in 2017.

Der Staat führt den Kampf gegen Radikale nicht nur mit Razzien gegen Vereine oder Moscheen, nicht nur vor Gericht. Der Staat führt ihn auch hinter Gittern. Vollzugsbeamte erhalten Fortbildungen, sollen die Gespräche der Islamisten verfolgen, radikale Gesten, Symbole oder Haltungen frühzeitig erkennen und „Risikobewertungen“ abgeben. Auch auf die Ernährung und die Kleidung oder das Aussehen eines Gefangenen sollen die Beamten achten, etwa auf Pluderhosen oder Häkelmützen, Gewänder oder Bärte. All das können Warnsignale einer Radikalisierung sein, vor allem wenn sich ein Mensch schnell verändert. All das kann aber auch in die Irre führen. Merkblätter und Leitfäden der Sicherheitsbehörden sollen den Beamten in den Anstalten helfen, nicht jeden Muslim mit Bart unter Generalverdacht zu stellen – ein Drahtseilakt zwischen Freiheit und Gefahrenabwehr im Vollzug.

Islamisten voneinander isolieren

Justizbehörden richten Stabsstellen und Kompetenzzentren ein und setzen zudem auf Imame und Sozialpädagogen, die auf Extremisten zugehen, ihnen Betreuung anbieten, in denen es nicht nur um Gewalt geht, sondern oft auch um Religion. Fast alle Landesregierung geben an, dass sie Islamisten im Gefängnis unter „besondere Beobachtung“ stellen. Das Ziel: die Islamisten in Haft voneinander isolieren, um „gegenseitiger Bestärkung in der radikalen Gesinnung nicht Vorschub zu leisten“, wie etwa die Berliner Regierung schreibt. Extremisten sollen keine verschwörerischen Zellen bilden und keine labilen Mitgefangenen mit ihrer Ideologie beeinflussen können.

Manche Länder, gerade Stadtstaaten wie Bremen, sehen sich durch die wachsende Zahl inhaftierter Extremisten mit einer „veränderten Sicherheitslage konfrontiert“. So müssen auch Gefangenentransporte in einigen Fällen besonders gesichert werden. Das alles kostet: Personal und Platz. „Je mehr Islamisten verurteilt werden, desto schwieriger wird das“, heißt es beim bayerischen Justizministerium.

Doch eine billigere Alternative im Umgang mit Extremisten in Haft hält kaum jemand für ratsam – allein schon aufgrund der Lehren aus der Vergangenheit. „Neue Terrorzellen sind in Europa auch deshalb entstanden, weil wir den Fehler gemacht haben, Dschihadisten in einen Trakt zu sperren“, sagt Saad Amrani, Polizeichef der Brüsseler Gemeinde Ixelles, im Gespräch mit dieser Redaktion.

Briefe kontrollieren, Telefonate überwachen

Nun also aufwendige Kontrollen: Verfassungsschützer erzählen, dass sie Schriften und Bücher überprüfen, sobald ein Häftling sie bestellt. Nur wer extremistische Texte auf dem Zellentrakt verbreitet, macht sich strafbar. Nicht, wer sie nur liest. Beamte beobachten zudem, ob eine Person Propaganda unter Mitgefangenen verteilt. Die Behörden durchsuchen regelmäßig die Zellen, überwachen Telefonate, lesen Briefe und scannen sie nach islamistischer Codierung. Viele Maßnahmen der Justiz greifen längst bei anderen Straftätern.

Dennoch muss sich der Staat umstellen: Dschihadisten sind heute jung, ihre Biografien zeigen Brüche wie eine Scheidung der Eltern oder Ausgrenzung am Arbeitsmarkt, mal sind sie in der Schule gescheitert, mal haben sie studiert, mal sind sie schon kriminell und dann erst radikal, mal umgekehrt. Häufig sprechen sie Deutsch, aber manchmal auch nur Russisch, Türkisch oder Arabisch. Sie kommen aus Deutschland, Syrien oder Dagestan. Es gebe kein Raster für Terroristen, sagen Experten. Gerade beim IS würde jeder seinen Platz finden, „vom Akademiker bis zum brutalen Schlägertyp“.

Das Familienministerium will in diesem Jahr Modellprojekte zur Deradikalisierung in Höhe von 2,2 Millionen Euro fördern. Doch das Wissen im Kampf gegen Extremismus hinter Gittern steht in vielen Bundesländern erst am Anfang, lange haben die Regierungen die Gefahr ignoriert oder sind Maßnahmen nicht entschlossen angegangen. Jetzt rüstet sich der Staat. Doch auch die islamistische Szene geht in Stellung.

„Befreit die Gefangenen“

Die Macher der Propaganda-Seite „Al Asraa – Die Gefangenen“, die in Nordrhein-Westfalen sitzen und als Nachfolge-Gruppe der verbotenen „Tauhid Germany“ gelten, rufen zu Bittgebeten für die Verhafteten auf. „Die Muslime“ sollen ihnen Briefe schreiben oder die Angehörigen zuhause unterstützen – und Geld spenden. In geschlossenen Facebook-Gruppen versteigern sie Korane, Schmuck oder Gewänder. Manche sammeln Schokolade oder Bonbons. Auf der Internetseite der Gruppe sind Anwälte gelistet, die Islamisten vor Gericht vertreten. Garniert mit pathetischen Videos und Aussprüchen des Propheten rufen sie auf: „Befreit die Gefangenen“.

In einem Pamphlet einer anderen Gruppe heißt es: „Sei standhaft, oh du Gefangener!“ Der Autor rät: „Sei wachsam und sei nochmal wachsam vor dem, was deine Feinde dir an Fernseher, Zeitschriften und Büchern, welche angeblich als Beratung dienen, herbeibringen.“

Es sind Botschaften, die sich nicht nur an den Inhaftierten richten, sondern auch an die Radikalen draußen: „Haltet zusammen! Lasst euch nicht einschüchtern!“ Trotz Razzien, trotz Verhaftungen, trotz millionenschwerer Präventionsprojekte. Die Propaganda der sogenannten Salafisten ziele nicht nur auf Anhänger der Szene in Haft ab, sagt Thomas Mücke, „sondern richtet sich auch an die Angehörigen in Freiheit. Daher muss die Prävention auch hier ansetzen und den Familien helfen.“ Mücke ist Geschäftsführer beim „Violence Prevention Network“. Der Verein arbeitet bereits in mehreren Bundesländern mit inhaftierten Islamisten. Er sagt auch: „Weil die Initiativen jung sind, wissen wir noch nicht, was hilft – und wie gut.“

Radikalisierung beginnt mit Freundschaft

Wie gut die Propaganda der Salafisten verfängt und wie viel Geld aus der Szene in deutschen Gefängnissen landet, ist unklar. Sicherheitsbehörden machen darüber keine Angaben. Womöglich, weil sie es nicht genau wissen. Gespräche mit den Gefangenen selbst lassen die Behörden in keinem Bundesland zu.

Merve Schmidt darf reden. Allerdings unter einem geänderten Namen. Zum Schutz vor möglichen Anfeindungen aus der Szene, wie sie sagt. Schmidt leitet in Bayern die Koordinierungsstelle für Maßnahmen gegen Salafismus/Islamismus. Sie ist Islamwissenschaftlerin und hat lange Zeit beim Verfassungsschutz gearbeitet. Bei ihr laufen die Fälle auf, die „unter Beobachtung“ stehen. Schmidt sagt: „Oftmals beginnt eine Radikalisierung nicht bei der Lektüre von Hetzschriften oder dem Planen eines Anschlags. Es geht erst einmal über den persönlichen Kontakt, unverfängliche Gespräche, den Aufbau einer Freundschaft, das gemeinsame Beten.“ So gehen Salafisten vor, die mit rund 10.000 Anhängern als Minderheit unter den vier Millionen Muslimen in Deutschland eine fundamentalistische und in Teilen dschihadistische Auslegung des Koran vertreten: auf der Straße, in ihrer Nachbarschaft. Aber eben auch im Gefängnis.

Neonazis würden sich unauffällig verhalten, sagt Schmidt. Der Umgang mit Rechtsextremisten im Gefängnisalltag fordere den Justizvollzug daher nicht so stark die Auseinandersetzung mit Salafisten. „Sie propagieren häufig offensiv ihre Ideologie – auch in Haft. Sie haben ein teils sehr starkes Sendungsbewusstsein.“

Lernstätten für neue Kriminalität

Welches Risiko die Haft birgt, zeigen Fälle der Vergangenheit: Der Bremer Harry S. saß wegen Raubüberfalls ein und kam hinter Gittern mit Anführern der salafistischen Szene in Kontakt. Harry S. reiste 2015 zum selbsternannten „Islamischen Staat“ nach Syrien aus. Chérif Kouachi und Amedy Coulibaly, zwei Attentäter von Paris, kannten sich aus dem Gefängnis. Auch die Brüder Ibrahim und Khalid el Bakraoui, die im März 2016 gemeinsam das Sprengstoff-Attentat in Brüssel verübten, hatten lange Zeit wegen Raubüberfälle im Gefängnis gesessen. Manche sagen, sie hätten sich genau dort auch radikalisiert.

Haft ist eng, die kriminellen Menschen leben getrennt von Familie und Freunden. Gefängnisse sind oft Lernstätten für neue Kriminalität. In vielen Fällen haben Dschihadisten bereits vor der Haft eine lange „Karriere“ als Kleinkriminelle oder Gewalttäter. Viele Experten sind sich sicher: Der Ausweg aus dem religiös begründeten Hass muss vor allem auch ein Abschied von der Gewalt sein.

Wer wissen will, wie dieser Abschied funktionieren kann, muss Cornelia Pfaff besuchen. Sie leitet die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt im bayerischen Ebrach. Ihr Büro liegt direkt neben den Zellen der Gefangenen und dem Raum mit Dartscheibe und Tischtennisplatte.

„Lecker-Wörte“ gegen den Hass

Pfaff hat Psychologie studiert, erst hat sie zum Strafvollzug geforscht, mittlerweile arbeitet sie seit vielen Jahren mit Menschen, die wegen schwerer Gewaltdelikte in Haft sind – manche von ihnen haben Menschen getötet. So wie einzelne Dschihadisten auch.

Pfaff geht zu einem Schrank in ihrem Büro und holt einen Pappkarton aus einer Schublade. Eine neue Idee für die Gefangenen, eine Übung, sagt sie. Sie nimmt einen Stapel Postkarten aus dem Karton. Pferde sind dort abgedruckt, ein Garten mit einer Schaukel, ein Löwe, ein lachendes Kind, ein schlafender Bär. Die Gefangenen sitzen im Kreis und sollen sich Karten aussuchen, jeder eine. Mit dem Motiv, das zu ihnen oder ihren Wünschen passt. Jeder zeigt dann sein Bild, die anderen sagen spontan, was ihnen dazu einfällt. Stärke zum Löwen, Lebensfreude zum Kind, Sehnsucht nach Ruhe zum Bären. „Lecker-Wörter“, sagt Pfaff. „Die Gefangenen sollen positive Assoziationen mit ihren Lebenszielen verbinden, und nicht permanent an ihre Gewalttat und das Scheitern erinnert werden.“

Auch Pfaff hat aus eigenen Fehlern gelernt. Früher, sagt sie, hätten die Therapeuten vor allem auf die Defizite von Gewalttätern geschaut. Diese hätten ihre Impulse nicht unter Kontrolle, könnten nicht den Blick der Opfer einnehmen, hätten Lust an Brutalität. Heute gehe es in der Therapie stärker darum, ein „positives Zukunfts-Ich“ aufzubauen, sagt Pfaff. „Wer will ich sein? Wer sind meine Freunde? Was liegt mir am Herzen? Wie möchte ich meine Religion ausüben?“ Cliquen, kriminelle Banden und extremistische Szenen hätten vieles gemeinsam: Sie bieten Halt, stärken Machtgefühle und Identität eines Menschen. „Es ist wichtig, dass die Gefangenen in Haft etwas Neues entdecken, das ihnen Halt und Selbstwertgefühl gibt.“

Dschihadist: Neuer Typ Gefangener

In Pfaffs Abteilung können verurteilte Gewalttäter Gitarre oder Fußball spielen, sie können kochen, malen oder Texte schreiben. In Ebrach holen Gefangene ihren Schulabschluss nach und fangen eine Ausbildung an: als Maurer oder Schreiner, als Metallbauer oder Elektroniker.

Doch nur wenige Inhaftierte haben Zugang zu Pfaffs Abteilung, derzeit ist es nur ein Dutzend junger Männer, die meisten zwischen 18 und 20 Jahre alt. Sie leben mindestens 18 Monate auf der Station, die Zeit kurz vor ihrer Entlassung, manche sogar drei Jahre.

Mit dem Dschihadisten kommt ein neuer Typ Gefangener in den deutschen Strafvollzug. Durch die Sozialtherapie könne das Gefängnis ein Ausweg aus der Radikalität sein, sagen Experten wie Kerstin Sischka. Sie ist Psychologin und Mitarbeiterin am Diagnostisch-Therapeutischen Netzwerk Extremismus in Berlin. Sie betreut auch Familien von jungen Menschen, die ins Kriegsgebiet nach Syrien oder Irak ausgereist sind. Eine Mischung aus Einzelgesprächen und Gruppentherapie, aber auch den Kontakt zu verschiedenen Fachleuten der Deradikalisierung seien während der Haft wichtig – Pädagogen, Psychologen, Geistliche.

Kaum Zugang zur Sozialtherapie

Nur: Bisher leben nur in wenigen Einzelfällen religiös motivierte Extremisten auf sozialtherapeutischen Stationen deutscher Gefängnisse – derzeit offenbar nur eine Person in Niedersachsen, wie die Umfrage dieser Redaktion bei den Justizministerien der Länder auch zeigt. Und auch bei Cornelia Pfaff ist niemand, der seine Gewalt religiös begründet.

Dennoch hält auch Pfaff Methoden der Therapie für übertragbar auf andere Gruppen von Straftätern. Denn bei einer großen Zahl von Extremisten zeigt sich wie bei anderen gewalttätigen Kriminellen vor allem eines: Vieles lief schief im Elternhaus, etwa eine Trennung vom Vater nach einer Scheidung. Häufig fehlte den späteren Straftätern eine starke – männliche – Figur in der Familie.

Heute sitzt Pfaff auch deshalb häufig mit den Gefangenen zusammen, sie machen gemeinsam Mathe-Hausaufgaben, dazwischen plaudern sie oder spielen Tischtennis. Im Fachjargon der Therapeuten nenne man das „nachbeeltern“, sagt Pfaff.