Berlin. Bericht zur deutschen Einheit warnt: Schwache Regionen könnten endgültig abgehängt werden. Das könnte radikale Einstellungen fördern.

28 Jahre lang stand die Berliner Mauer – und genau 28 Jahre ist es in diesem Herbst her, dass sie fiel. Doch noch immer ist das wiedervereinigte Deutschland weit davon entfernt, allen Bürgern gleichwertige Lebensverhältnisse zu bieten. Mehr noch: Experten prognostizieren, dass die Schere zwischen wohlhabenden und abgehängten Regionen in den nächsten Jahren noch weiter auseinandergeht. Der Traum von üppig blühenden Landschaften in ganz Deutschland? Ausgeträumt.

Die Unterschiede dürften sich noch „tendenziell verschärfen“, heißt es im aktuellen Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, der dieser Zeitung vorab vorlag. Am Mittwoch soll er in Berlin vorgestellt werden. Demnach wächst zwar die Lebenszufriedenheit in Ost und West seit Jahren, auch die Arbeitslosigkeit sinkt – doch die Angleichung der Wirtschaftskraft von Ost und West läuft nur noch schleppend: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner lag der Abstand 2016 noch immer im Schnitt bei 32 Prozent.

Auch die regionalen Unterschiede innerhalb einzelner Bundesländer, etwa zwischen der boomenden Großstadtregion Leipzig und dem abgehängten Erzgebirge, sind demnach auch im europäischen Vergleich hierzulande größer als etwa in Frankreich oder Großbritannien.

Leipzig, Dresden oder das Berliner Umland profitieren

Und keine Trendwende in Sicht: „Die Lage der wohlhabenderen Regionen wird sich noch verbessern, die Lage der abgehängten Regionen noch verschlechtern“, sagt auch Joachim Ragnitz, Vizechef des Dresdner ifo-Instituts. „Das gilt besonders für die neuen Bundesländer, aber auch für die alten.“ Der wichtigste Grund für dieses Auseinanderdriften ist laut Ragnitz die Abwanderung. „Zentren wie Leipzig, Dresden oder das Berliner Umland profitieren, während Regionen wie die Uckermark, Ostthüringen, die Lausitz, das Erzgebirge oder die Altmark in Sachsen-Anhalt sich immer weiter entleeren.“

„Das ist eine dramatische Entwicklung“, sagt die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Länder, Iris Gleicke (SPD), gegenüber dieser Zeitung. „Man muss sich klarmachen, was das für die Menschen konkret bedeutet: Ganze Regionen, in denen es weit und breit keinen Lebensmittelladen, keinen Kindergarten, keinen Arzt und irgendwann auch keine jungen Leute mehr gibt.“ Diese Entwicklung betreffe zwar nicht nur ostdeutsche, sondern auch einige westdeutsche Regionen. In Ostdeutschland aber sei die Strukturschwäche bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend. „Gebraucht wird deshalb eine intelligente Förderung der strukturschwachen Regionen in Ost und West“, fordert die Ostbeauftragte. Eine reine Ostförderung über den 2019 auslaufenden Solidarpakt II hinaus sei politisch nicht durchsetzbar.

Rügen und Bottrop gehören zu den Schlusslichtern

Regierungsbericht Deutsche Einheit: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Ostdeutschland in Prozent des westdeutschen BIPs seit 1991, Nr. 27162, Querformat 90 x 80 mm, Grafik: C. Goldammer, Redaktion: B. Jütte
Regierungsbericht Deutsche Einheit: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Ostdeutschland in Prozent des westdeutschen BIPs seit 1991, Nr. 27162, Querformat 90 x 80 mm, Grafik: C. Goldammer, Redaktion: B. Jütte © dpa-infografik | dpa-infografik GmbH

Eindrücklich lässt sich das Auseinanderdriften der Regionen auch am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner ablesen: In einzelnen ostdeutschen Kreisen im Berliner Umland, wie etwa Teltow-Fläming oder Dahme-Spreewald, liegt die Wirtschaftskraft so hoch wie im gesamtdeutschen Durchschnitt. Andere Regionen, wie etwa der Erzgebirgskreis oder Rügen erreichen kaum 70 Prozent davon. „Delmenhorst und Bottrop liegen allerdings auch nur bei rund 71 Prozent“, so Ökonom Ragnitz. Heißt: Auch im Westen öffnet sich die Schere. Zu den strukturschwachen westdeutschen Gegenden gehören laut Ragnitz auch Pirmasens in der Pfalz oder Hof in Franken.

Der Dresdner Ökonom rät, sich keine Illusionen zu machen: „Wir müssen uns von dem Ziel verabschieden, dass es überall gleiche Einkommensverhältnisse gibt.“ In vielen Regionen werde es auch in Zukunft nicht möglich sein, genügend neue Industrie, Dienstleister oder Forschungsinstitute anzusiedeln, um die Entwicklung umzukehren. „Aber es ist wichtig, den Menschen in diesen Regionen das Gefühl zu geben, dass sie nicht abgehängt werden.“ Und: Gerade mit Blick auf die ostdeutschen Länder dürfe man nicht vergessen: „Der wirtschaftliche Rückstand der ostdeutschen Bundesländer ist keine Folge aus der Zeit der deutschen Teilung, sondern hängt mit den Entscheidungen zusammen, die nach der Wende getroffen wurden – etwa Standortschließungen, Abwicklung der örtlichen Unternehmen, Verlagerung der Arbeitsplätze in den Westen.“

Das Abhängen fördert radikale Einstellungen

Auch die Ostbeauftragte warnt davor, wirtschaftlich abgehängte Regionen alleinzulassen: „Einen Rückzug des Staates aus der Fläche darf es nicht geben. Zum einen, weil die entstehenden Lücken von Kräften besetzt werden, die nichts Gutes im Sinn haben und eine Verbesserung der Lage auf Dauer verhindern. Und zum anderen, weil sich nur die Reichen einen schwachen Staat leisten können.“ Auch der Regierungsbericht klingt besorgt: Gerade in den schwächsten Regionen, „in denen sich Menschen abgehängt fühlen“, könnten radikale Einstellungen entstehen.