Brüssel/Athen. Die verhafteten Deutsche sind wieder auf freiem Fuß. Dennoch hat in Brüssel ein Umdenken eingesetzt, was die Türkei-Politik betrifft.

Bloß nicht provozieren lassen, bloß nicht den ersten Schritt tun: Diese Linie zur Türkei-Politik hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erst vor einer Woche ausgegeben. Doch einen Tag nach der TV-Debatte zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Kandidat Martin Schulz hat in Brüssel ein Umdenken eingesetzt. Plötzlich betont auch Juncker, dass sich die Türkei „in Riesenschritten“ von Europa wegbewege. Der Kommissionschef verfolge die Entwicklung in der Türkei „mit großer Sorge“, sagte sein Sprecher Margaritis Schinas am Montag. Juncker werde seine Haltung in zehn Tagen in einer Rede zur Lage der EU präzisieren.

Die Rede zur „State of the Union“ im Europaparlament in Straßburg war schon oft eine Gelegenheit, um die Europapolitik neu zu justieren. „Zu wenig Europa, zu wenig Union“, hatte Juncker vor zwei Jahren, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, ausgerufen. Nun könnte er eine Kehrtwende in der Türkei-Politik einleiten. Er würde damit der Kanzlerin folgen – wie so oft.

Bisher zeichnet sich in Brüssel keine Mehrheiten für ein Gesprächsende ab

In der TV-Debatte am Sonntag hatte sich Merkel erstmals öffentlich für einen Abbruch der Verhandlungen ausgesprochen. Zuvor hatte ihr Schulz zu viel Nachgiebigkeit gegenüber dem türkischen Staatschef Recep Erdogan vorgeworfen – und einen Kurswechsel gefordert. Sie wolle „noch einmal mit meinen Kollegen reden, ob wir die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden können“, sagte Merkel.

TV-Duell: Schulz will Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen

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    Sie ging mit ihrer Ankündigung noch über die Position des Europaparlaments hinaus. Die EU-Abgeordneten hatten in einer Entschließung Ende 2016 nur ein Einfrieren der Gespräche gefordert. Das letzte Wort haben die Staats- und Regierungschefs, die sich Ende Oktober zum nächsten EU-Gipfel in Brüssel treffen.

    Dort will Merkel nun für einen Kurswechsel werben. Das wird nicht leicht, denn bisher zeichnen sich nicht die dafür nötigen Mehrheiten ab. Wenn es nur um eine vorübergehende Aussetzung der Verhandlungen gehen sollte, reicht dafür eine qualifizierte Mehrheit. Dann müssten nur 16 von insgesamt 28 Ländern einem entsprechenden Antrag zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der EU vertreten.

    „Sie bauen eine Berliner Mauer mit Steinen des Populismus“

    Die türkische Regierung reagierte empört auf die Festlegungen von Merkel und Schulz. „Sie bauen eine Berliner Mauer mit den Steinen des Populismus“, kritisierte der türkische Minister für die Beziehungen zur EU, Ömer Celik. In einer Serie von Twitter-Nachrichten warf der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdogan, Ibrahim Kalin, den beiden Spitzenpolitikern vor, sie schürten „Diskriminierung und Rassismus“. Kalin wiederholte auch den schweren Vorwurf, Deutschland verteidige nicht die Demokratie, sondern gewähre „Terroristen und Putschisten“ Unterschlupf.

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      Ein endgültiger Bruch mit der Türkei wäre allerdings ein schwieriges Unterfangen: Dies müsste der Europäische Rat einstimmig beschließen. Bisher hatte sich nur Österreich für einen solchen radikalen Schnitt ausgesprochen. Außenminister Sebastian Kurz wirbt seit Monaten für den Abbruch. Demgegenüber hatte Luxemburg vor einem solchen Schritt gewarnt. „Erdogan will den Abbruch der Beitrittsverhandlungen provozieren“, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn Mitte August. „Wir sollten einen kühlen Kopf bewahren und darauf nicht hereinfallen.“ Es gebe immer noch Hoffnung, dass die türkische Demokratie gerettet werden könne.

      Mit der Türkei wurden nur 16 von 35 sogenannten Verhandlungskapiteln eröffnet

      Diese Hoffnung wird von vielen EU-Politikern geteilt. Vor allem Großbritannien, Spanien und Italien hatten sich wiederholt gegen ein Ende der Beitrittsverhandlungen ausgesprochen. Noch im Frühjahr wurde in Brüssel sogar über eine Ausweitung der Zollunion diskutiert. Sie wurde als Mittel gesehen, die Türkei trotz mangelnder Fortschritte an Europa zu binden.

      Aber die Beitrittsgespräche laufen schon seit langem nicht mehr rund. In den 2005 begonnenen Gesprächen wurden nur 16 von 35 sogenannten Verhandlungskapiteln eröffnet. Nach dem Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei im Frühjahr 2016 nahmen die Verhandlungen wieder Fahrt auf. Doch bereits im Dezember 2016 beschlossen die EU-Staaten, die Verhandlungen nicht mehr auszuweiten. Seither liegen sie de facto auf Eis.

      Freilassung der Deutschen wohl kein politisches Entgegenkommen

      Die Beziehungskrise hat nach den Äußerungen der Kanzlerin eine europäische Dimension erreicht. „Der Beitrittsprozess mit der Türkei ist längst gescheitert und wird von beiden Seiten unehrlich geführt“, sagte der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP). Beim nächsten EU-Gipfel müsse Klartext geredet werden, forderte Manfred Weber, der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament.

      Zu Zurückhaltung mahnte dagegen der Außenpolitiker Elmar Brok (CDU). „Ich glaube nicht, dass beim Gipfel der formale Abbruch der Beitrittsgespräche kommt“, sagte er dieser Redaktion. Vielmehr werde Merkel darauf dringen, die Ausweitung der Zollunion auf Eis zu legen und das entsprechende Mandat für die EU-Kommission zurückzuziehen. „Das tut Erdogan richtig weh“, so Brok.

      Dass die Türkei am Montag eine von zwei vor vier Tagen festgenommenen Bundesbürgern wieder auf freien Fuß setzte, passt auf den ersten Blick nicht ins Bild. Das deutsche Ehepaar war am Donnerstag am Flughafen der Touristenhochburg Antalya in Polizeigewahrsam genommen worden. Den Eheleuten mit türkischen Wurzeln werden offenbar Verbindungen zur Bewegung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen vorgeworfen. Am Montag wurde die Ehefrau nach einem Verhör bei der Staatsanwaltschaft ohne Auflagen freigelassen, der Ehemann blieb in Gewahrsam. Möglicherweise hatten die türkischen Behörden nicht genug Belastendes gegen sie in der Hand. Dass es sich bei der Freilassung um ein politisches Entgegenkommen Ankaras handelt, gilt jedenfalls als unwahrscheinlich.