Berlin. Die CDU ist verwechselbar geworden, doch sie ist unverwechselbar Merkels Partei. Sie ist auf der Siegerstraße. Doch es bleiben Risiken.

Glaubt man FDP-Chef Christian Lindner, ist zwar nicht die Bundestagswahl, wohl aber das Rennen um Platz eins schon gelaufen, obwohl noch mehr als sechs Wochen bis zum 24. September verbleiben. Nach dieser Logik ist es keine Herausforderung, einen CDU-Wahlkampf zu führen. Ihr Generalsekretär Peter Tauber sitzt quasi im selbstfahrenden Auto, unterwegs auf der Siegerstraße, im Rückspiegel schemenhaft ein Fahrzeug – das könnten Martin Schulz und sein Oldtimer sein.

So ist die Wahrnehmung. Aber vielleicht werden Merkels Aktien nur gnadenlos überbewertet. Es gibt Unzufriedenheit, die Flüchtlingskrise ist unvergessen, genauer gesagt: der Kontrollverlust und die Folgen. Die Konservativen im Land sind seit langem verstört, sie empfinden die Merkel-CDU als „beliebig und orientierungslos“ (Friedrich Merz), sehnen sich nach einem „Stück Haltung und Gestus“.

Diskrepanz zwischen Stimmung und Wahrnehmung

Insbesondere in Bayern dürfte zwischen Stimmung und Wahrnehmung eine Diskrepanz bestehen. Richtig ist, dass CSU-Chef Horst Seehofer seine Partei auf Merkel-Kurs trimmt. Die CSU ist eine Kommando-Partei, nach 2016, dem Jahr der Konfrontation mit der CDU-Kanzlerin, heißt es jetzt: Kommando zurück. Falsch ist hingegen die Vorstellung, dass sich im Freistaat der Unmut über Merkel gelegt hätte. Er ist da, wird auch gelegentlich artikuliert, aber findet kein mediales Echo. Aber: Der Unmut ist da. Die SPD wird nicht die Nutznießerin sein, ebenso wenig Grüne und Linke, sehr wohl jedoch die AfD, zum Nachteil der Union.

Die Hauptaufgabe der CDU-Strategen besteht darin, ihre Kampagne geordnet zu Ende zu bringen. Das ist weniger eine Frage der Plakate oder des Programms, mehr schon der Selbstdisziplin, der Wachsamkeit. Merkel wird es aufbringen, keine Frage. Überheblichkeit ist ihr wesensfremd, und die Mutter der Porzellankiste ist sie auch.

Macht der Gewohnheit bedroht Merkel

Mit dem ersten Auftritt am Sonnabend in Dortmund ist sie im Wahlkampfmodus, Merkel wird ihre Kampagne mit großem Einsatz durchziehen. Es gibt zwei Formate, die sie nicht komplett unter Kontrolle hat, die Townhall-Diskussion mit Wählern und das TV-Duell mit Schulz. Restrisiken.

Die Macht, die Merkel am meisten bedroht, ist die Macht der Gewohnheit. Das stärkste Argument für die Kanzlerin lautet abermals: „Sie kennen mich“. Auch ihre Strategie ist altbekannt: die asymmetrische Demobilisierung. So nennt man es, wenn jemand Reizthemen und alles vermeidet, was den politischen Gegner anstacheln könnte, und den Wählern programmatische Schonkost auftischt.

SPD kämpft um Selbstwertgefühl

Zweimal war Merkel damit erfolgreich. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurfte, dass sie es ein drittes Mal probieren wird, hat ihn Tauber am Montag geliefert. Mit seinen Großflächenplakaten könnte man genauso für die SPD werben. Die Gefahr ist groß, dass die CDU diesmal nicht nur die Anhänger ihrer Konkurrenz, sondern auch ihre eigenen demobilisiert; vielleicht sie sogar am meisten.

Wenn alle so tun, als sei die Wahl schon gelaufen, werden womöglich viele nicht abstimmen. Die CDU könnte ein Motivations- und Mobilisierungsproblem bekommen. Es gilt mehr denn je, was Merkel auf dem letzten CDU-Parteitag im Dezember ihren Anhängern zugerufen hat und bis heute keine Koketterie ist: „Ihr müsst mir helfen.“

Umgekehrt ist die SPD nicht in Auflösung, sondern eine Partei, die um ihr Selbstwertgefühl kämpft, oft genug am besten war mit Rücken zur Wand, und zumindest in Niedersachsen auch das Gefühl hat, dass ihr übel mitgespielt wird und sie von lauter Heuchlern umgeben ist. Die SPD ist wie ein verletzter und gedemütigter Löwe, und die können auch auf der politischen Wildbahn sehr gefährlich werden.