Warschau. Einige nennen ihn „Mörder“, weil sie ihn mit dem Flugzeugabsturz von Smolensk verbinden. Andere sehen in Tusk den Retter vor Kaczynski.

Als Donald Tusk vor dem Gebäude der Landesstaatsanwaltschaft ankam, in dem er aussagen sollte, warteten zwei Gruppen auf ihn: Auf der einen Seite empfingen ihn seine Unterstützer mit Sprechchören: „Donald Tusk! Donald Tusk!“ Auf der anderen Seite warteten Anhänger der Kaczynski-Partei PiS mit einem Transparent auf ihn: „Die Mitschuldigen des Verbrechens bleiben weiterhin ungestraft. Mord. Smolensk 2010.“

Die Szene zeigt, wie unterschiedlich Tusk, der EU-Ratspräsident und Premier der Jahre 2007 bis 2014 heute in Polen gesehen wird: Während die liberale Seite hofft, dass Tusk in die polnische Politik zurückkehrt und den Kampf mit dem PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski aufnimmt, würde die andere Seite ihren Ex-Premier am liebsten hinter Gittern sehen. Nun wurde Tusk in Warschau von der Landesstaatsanwaltschaft vorgeladen, weil er in einem Verfahren um den Flugzeugabsturz von Smolensk 2010 aussagen soll.

Jaroslaw Kaczynski befürchtet Konkurrenz von Tusk

Viele Gegner der Regierung sehen in Donald Tusk ihren Retter. Nur er könne sie vor Kazcynskis mutmaßlichen Plänen bewahren, Polen in einen autoritären Staat zu verwandeln. Denn die derzeitigen Führer der Opposition in Polen sind schwach, die PiS liegt in den Umfragen weit vorne. Nur Tusk traut ein großer Teil der Polen zu, dass er genug Charisma hat, um die Opposition in die Wahlschlacht gegen die PiS zu führen.

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    Auch Jaroslaw Kaczynski scheint zu befürchten, dass Tusk ihm Konkurrenz machen kann, denn er tut alles, um seinen Erzfeind in Polen unmöglich zu machen: Immer wieder deutet er an, dass Tusk Schuld am Flugzeugabsturz von Smolensk ist. Bei dem Flugzeugabsturz in Russland 2010 kamen Lech Kaczynski, der damalige Präsident und Bruder Jaroslaw Kaczynskis, sowie 95 weitere hochrangige Würdenträger aus Politik und Militär ums Leben.

    Kaczynski sieht eine Mitschuld Tusks am Tod seines Bruders

    In Kreisen der PiS scheint man zu glauben, dass der Absturz auf ein Attentat zurückzuführen ist. Die vorherrschende Theorie: Russische Geheimdienste haben mit Wissen Tusks den Präsidenten ermordet. Beweise hat Kaczynski für seine Unterstellungen nicht. Die scheint er aber auch nicht zu brauchen: Die hartgesottenen PiS-Anhänger glauben ihm so. Dabei wurde in den Ermittlungen festgestellt, dass die Katastrophe auf Pilotenfehler zurückzuführen ist.

    Als Jaroslaw Kaczynski vorletzte Woche heftigen Widerstand von der Opposition gegen seine umstrittene Justizreform erfuhr, gingen mit ihm die Nerven durch. Ein PO-Abgeordneter erinnerte Kaczynski daran, dass sein verstorbener Bruder Lech im Gegensatz zu ihm die Gewaltenteilung respektiert habe. Daraufhin rastete Kaczynski aus: „Ich weiß, dass ihr die Wahrheit fürchtet, aber ihr werdet eure Verräterfressen nicht mit dem Namen meines verstorbene Bruders abwischen!“, schrie er sichtlich aufgebracht in Richtung der Opposition. „Ihr habt ihn zerstört! Ihr habt ihn ermordet! Ihr seid Kanaillen!“

    Auch wegen dieser Äußerungen gibt es Befürchtungen, dass Kaczynski die Justiz unter seine Kontrolle bringen will, um Rache an der Opposition für den Tod seines Bruders zu nehmen.

    Kaczynski: „Tusk hat Grund, Angst zu haben“

    Muss Tusk, in dem Kaczynski den Hauptschuldigen für den Tod seines Zwillingsbruders zu sehen scheint, sich Sorgen um seine Sicherheit machen? Er winkt ab. Eine Gefahr sehe er vor allem für das polnische Justizsystem. Bisher ist Tusk nur als Zeuge geladen, auch wenn Jaroslaw Kaczynski in einem Fernsehinterview verkündet hat: „Tusk hat Grund, Angst zu haben“. Die Regierung hat vor einigen Wochen begonnen, die Särge der Opfer des Absturzes zu öffnen. In einigen Fällen wurde festgestellt, dass Leichen vertauscht wurden oder Teile mehrerer Leichen in einem Sarg lagen.

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      Nun soll die Frage geklärt werden, ob es zu Verschuldungen seitens der Militärstaatsanwaltschaft in Warschau 2010 gekommen ist: Diese hatte damals nicht an der Autopsie der Leichen in Russland teilgenommen und auch keine eigene Autopsie direkt nach der Rückführung der Körper nach Polen in Auftrag gegeben.

      Kritiker sehen Tusk eher auf der deutschen Seite als auf der polnischen

      Es ist die zweite Vorladung zu einem Verhör für Donald Tusks in diesem Jahr: In einem anderen Verfahren hatte Tusk im April aussagen müssen. PiS-Gegner vermuten, dass es bei den Vorladungen darum geht, ihn möglichst oft in die Nähe des Smolensk-Absturzes zu rücken und damit zu diskreditieren.

      Ein anderer Vorwurf, den die PiS und die ihr nahestehenden Medien dem EU-Ratspräsidenten häufig machen, ist, dass er nicht polnische, sondern deutsche Interessen vertrete und demnach ein „Verräter“, ein „Lakai Angela Merkels“ sei. So schlug etwa der PiS-Europa-Abgeordnete Zdzislaw Krasnodebski kurz vor Tusks Wiederwahl zum EU-Ratspräsidenten auf Twitter vor: „Um Klarheit zu schaffen, sollte Donald Tusk die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen.“ Denn Tusk sei ein Kandidat „anderer Staaten, vor allem der Deutschen“.

      Polens Regierung stellte sich damals als einzige gegen die Wiederwahl ihres Landsmannes zum EU-Ratspräsidenten. Damals kam Hoffnung auf, dass Donald Tusk auch 2020 bei der Präsidentenwahl gegen den Kandidaten der PiS antreten werde und gute Chancen hätte. Doch ob der das überhaupt will, ist unklar.