Berlin. Ein Ex-Funktionär taucht unter, weil ihm in Vietnam womöglich die Todesstrafe droht. Dann stellt er sich. Oder steckt mehr dahinter?

Fast ein Jahr lang wird Trinh Xuan Thanh gesucht, zuletzt international per Steckbrief. Bis er am Montagabend in Hanoi auftaucht und sich den Behörden stellt. Nicht ganz freiwillig, wie es nun erscheint. Der Geschäftsmann aus Vietnam ist angeblich in Berlin entführt und verschleppt worden.

Seit Tagen wird darüber spekuliert, in sozialen Netzwerken, vietnamesischsprachigen Onlinemedien wie Thoibao.de, im Auslandsdienst des britischen Senders BBC. Die „taz“ greift die Geschichte auf, die Berliner Polizei bestätigt zumindest einen „Verdachtsfall“ – langsam kommt der Stein ins Rollen.

Bundesregierung weist Diplomaten aus

Die Strafverfolgungsbehörden informieren das Auswärtige Amt, das am Dienstag zunächst den vietnamesischen Botschafter einbestellt – und ihm eine Frist bis Mittwochmittag setzt, um den Verdacht aus der Welt zu schaffen und Thanh zurückzubringen. Die Vietnamesen stellen sich taub. Daraufhin weist die Bundesregierung am Mittwoch einen Diplomaten aus. Nicht irgendeinen, sondern den Vertreter des Geheimdienstes Tong Cuc An Ninh in Berlin.

Das ist nicht ungewöhnlich. Ausgangsbasis für Spionage sind oft Legalresidenturen, das sind Botschaften und Konsulate sowie halbstaatliche Einrichtungen. Bislang war der vietnamesische Dienst den deutschen Behörden kaum aufgefallen. Im aktuellen Verfassungsschutzbericht wird er nicht erwähnt.

Offenbar im Tiergarten in ein Auto gezerrt

Binnen 48 Stunden muss der Agent nun Deutschland verlassen. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, erklärt, „wir sind sicher, dass Stellen des vietnamesischen Staates in den letzten Tagen hier Handlungen vorgenommen haben, die nur mit Begriffen des Strafrechts qualifiziert werden können – Menschenraub, Entführung“. So viel Klartext ist ungewöhnlich und lässt nur einen Rückschluss zu: Die Beweislage muss erdrückend sein.

Offenbar gibt es sogar Zeugen, die am 23. Juli, an einem Sonntag, beobachtet haben, wie bewaffnete Männer gegen 10.40 Uhr Thanh und eine Frau im Tiergarten in ein Auto zerren, eine Szene wie aus einem Thriller.

Thanh galt einst als politischer Aufsteiger

Trinh Xuan Thanh hatte in Deutschland Asyl und Vietnam wiederum seine Auslieferung beantragt. Am Rande des G20-Gipfels in Hamburg hatten die Vietnamesen zuletzt noch einmal offiziell Druck gemacht. Dem Regime in Hanoi war danach offensichtlich das Risiko zu groß geworden, dass Thanh dennoch in Deutschland dauerhaft Schutz findet und gar vom Radarschirm verschwindet.

Den Geschäftsmann erwartet daheim ein Schauprozess. An ihm will man ein Zeichen gegen Kampf gegen Filz, Machtmissbrauch und gegen Vetternwirtschaft setzen. Der 51-Jährige galt einst als aufsteigender Stern in Politik und Wirtschaft – bis er im Sommer des vergangenen Jahres verglühte. Er verliert seinen Sitz im Parlament, wird aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und der Veruntreuung von Millionen bei einer Tochterfirma des staatlichen Öl- und Gaskonzerns PetroVietnam bezichtigt.

Der Anlass – oder Vorwand? – war damals ein Foto, das ihn in einem
Lexus zeigt, in einer Luxuslimousine mit amtlichem Regierungskennzeichen. Eine Spritztour mit dem Dienstwagen? Das löste in Vietnam eine Diskussion über Verschwendung öffentlicher Gelder aus – und am Ende eine staatliche Untersuchung. KP-Chef Nguyen Phu Trong ordnete sie persönlich an.

War seine Begleiterin ein Opfer oder ein Lockvogel?

Thanh wusste genau, was das für ihn bedeutet: Er ist nicht nur in Ungnade gefallen, im ungünstigsten Fall droht ihm sogar die Todesstrafe. Er tauchte unter. Die Behörden vermuteten ihn im Ausland und ließen ihn über Europol per Steckbrief suchen. Wie sie ihm auf die Spur kamen, ist unklar. Deutschland war aber schon deshalb einer heißer Tipp, weil er hier schon einmal gelebt hatte.

Laut „taz“ ließ sich Thanh in einem Park fotografieren. Aus den Details (eine Skulptur, ein Pavillon) habe man auf Berlin als Aufenthaltsort schließen können, genauer gesagt: auf den Treptower Park. Wenn das stimmt, war er fahrlässig unvorsichtig. Vielleicht ist er aber auch ganz unspektakulär verraten worden. Es gibt viele Gerüchte. War das zweite Entführungsopfer in Wahrheit ein Lockvogel? Ist Thanh via Paris oder auf Umwegen in Osteuropa nach Hanoi gebracht worden? Um diplomatisch so viel zu riskieren, muss in Hanoi die Sorge schon sehr groß gewesen sein, dass der frühere Funktionär Interna aus dem Machtapparat auspackt.

Nach offizieller Lesart hat er sich in Hanoi selbst gestellt

Das Auswärtige Amt reagiert heftig. „Die Entführung des vietnamesischen Staatsangehörigen Trinh Xuan Thanh auf deutschem Boden ist ein präzedenzloser und eklatanter Verstoß gegen deutsches Recht und das Völkerrecht“, kritisiert Schäfer. „Ein derartiger Vorgang hat das Potenzial, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Volksrepublik Vietnam massiv negativ zu beeinflussen.“

Nach offizieller Lesart hat sich der Geschäftsmann selbst gestellt. Wie er dorthin kam, sagen die vietnamesischen Behörden natürlich nicht, vor allem zeigen sie keine Fotos. Zeitgleich berichteten Vietnamesen in der BBC über „Theorien“, wonach Trinh Xuan Thanh in Deutschland entführt und zurück in seine Heimat „begleitet“ worden sei. Ein staatlicher Escortservice made in Vietnam.