Neu-Delhi /Bangkok. Die größte Demokratie der Welt bekommt einen Präsidenten aus der untersten Kaste. Regierungschef Modi will so seine Macht absichern.

Wo in Indien ein Dalit, ein „Unberührbarer“, auftaucht, findet sich nahebei meist auch ein Supdu, ein beim Sauberfegen nützliches Körbchen. Das ist in dem riesigen, rostroten Palast, der einst von den britischen Kolonialherren erbaut und in dem heute der Präsident der größten Demokratie der Welt wohnt, nicht anders. Auch 70 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens gilt der Korb als typisches Arbeitswerkzeug der knapp 200 Millionen Dalits, wie Angehörige der früher als „Unberührbare“ bekannten untersten Hindu-Kaste heißen.

Doch der nächste Hausherr im Präsidentenpalast hat diese Vergangenheit lange hinter sich gelassen: Am Montag wählten die knapp 5000 Wahlmänner des Landes, 71 Prozent von ihnen Millionäre und gut 30 Prozent vor Gericht angeklagt, ein neues Staatsoberhaupt, der aus der niedrigsten Kaste stammt. Am Donnerstag soll das Ergebnis vorliegen, doch schon jetzt gilt die Wahl des Regierungskandidaten Ram Nath Kovind (71) als sicher.

Konkurrentin Meira Kumar hat keine Chance

Der Rechtsanwalt aus einem kleinen Dorf nahe der Stadt Kanpur am Ganges, der von der in Delhi regierenden hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premierminister Narendra Modi aufgestellt wurde, dürfte fast zwei Drittel der Wahlmänner hinter sich vereinen. Seine Konkurrentin Meira Kumar, die erste weibliche Parlamentssprecherin und ebenfalls eine Dalit, hat keine Chance. Sie war von der oppositionellen Kongresspartei der Politikerdynastie der Gandhis aufgestellt worden.

Ein Dalit im Rashtrapati Bhavan, dem Präsidentenpalast – das ist nicht ganz neu für Indien. Schon um die Jahrtausendwende residierte dort mit Kocheril Raman Narayanan ein Angehöriger der missachteten Bevölkerungsgruppe als Staatsoberhaupt. Doch diesmal weitet Hindunationalist Modi mit seinem Mann Nath Kovind nicht nur die Kontrolle über den Staatsapparat aus. Er setzt auch ein wichtiges Symbol im Kampf um die zukünftige Herrschaft über Indien mit seien 1,33 Milliarden Einwohnern durch die BJP.

Wut der Dalits wächst trotz Nath Kovinds Erfolg

„Politisch waren die Dalits in der indischen Geschichte noch nie so wichtig wie heute“, sagt Menschenrechtsanwalt Ravi Nair vom South Asia Human Rights Documentation Center in der Hauptstadt Delhi. Die Harijan (Kinder Gottes), wie Unabhängigkeitsführer Mahatma Gandhi sie einmal nannte, stellen 16,6 Prozent der Bevölkerung dar. Da die Hindunationalisten mit ihrer antiislamischen Rhetorik Muslime weitgehend vergrätzt haben, braucht die BJP die Dalits für zukünftige Wahlsiege – in einer Zeit, in der die Wut der Dalits wächst.

Dafür gibt es viele Gründe. Ein Studentenführer wurde von hindunationalistischen Kommilitonen im vergangenen Jahr an der Delhi Universität in den Selbstmord getrieben. Vier Dalits wurden im Bundesstaat Gujarat, der Heimat von Premierminister Modi, öffentlich ausgepeitscht, weil sie angeblich mit den in Indien heiligen Kühen gehandelt hatten. Ein landesweites (erst vor wenigen Tagen vom Obersten Gericht wieder aufgehobenes) Verbot der Kuhschlachtung hatte Hunderttausende von Dalits um ihre Jobs gebracht.

Macht liegt nicht beim Präsidenten, sondern beim Premierminister

Außerdem stampfte die Modi-Regierung an 35 Universitäten die Mittel für Studiencenter ein, die sich um „sozialen Ausschluss und Integrationspolitik“ kümmerten und in denen größtenteils Dalit-Intellektuelle arbeiteten. Eine Statistik eines dieser Zentren beleuchtet die Realität, in der die Dalits leben: Sie machen 16,6 Prozent Bevölkerungsanteil aus, stellen aber 21,6 Prozent der indischen Gefängnisinsassen.

„Die Parteien versuchen doch nur, sich bei den Dalits einzuschmeicheln, um unsere Stimmen bei den nächsten Wahlen zu bekommen“, meint der 61-jährige Shivraj in Shabbirpur. „Wird der neue Präsident überhaupt die Macht haben, Gräueltaten gegen Dalits zu stoppen? Es ist ja nur ein zeremonieller Posten, wichtig ist die Politik der Regierung.“ Das indische Staatsoberhaupt erfüllt, ähnlich wie der deutsche Bundespräsident, vor allem repräsentative Aufgaben. Die Macht liegt beim Premierminister.

Positive Diskriminierung in Verfassung verankert

Indiens gesellschaftliche Hierarchie hat nach dem etwa 3000 Jahre alten hinduistischen Kastensystem in den vergangenen Jahrzehnten eine Art Lockerung erfahren. Die Verfassung von 1950 sieht ein System der positiven Diskriminierung für benachteiligte Gruppen vor. Die rund 200 Millionen Dalits werden heute nicht mehr „Unberührbare“ genannt, wohl aber immer noch diskriminiert.

Ihnen wird weiter der Zutritt zu Tempeln oder das Trinken aus gemeinschaftlichen Brunnen verboten. Noch heute haben die meisten Dalits kein Land und üben vor allem körperliche Arbeit aus. Viele sind Müllsammler. Es gibt aber auch Dalits, die es weit gebracht haben. Nath Kovind, der schon in jungen Jahren in eine radikale hindunationalistische Kadertruppe eintrat, wirkt wie ein hindunationalistischer Modell-Dalit.

Künftiger Präsident war zuletzt Gouverneur in Bihar

Der Wahlspruch des Anwalts, der zuletzt als Gouverneur im Bundesstaat Bihar amtierte: „Alle sollten so hart arbeiten wie ich, um Erfolg zu haben.“ Vor einigen Jahren bezeichnete der zukünftige Präsident des Vielvölkerstaats Indien die Religion des Christentums und Islams als „fremdartig“. Ob aber das neue Staatsoberhaupt trotz seiner Einstellungen immer den Respekt seiner von den Brahmanen (die oberste Kaste) dominierten Partei genießen wird, stellt zumindest der Ministerpräsident Yogi Adityanath in Nath Kovinds Heimat Uttar Pradesh infrage.

Der rabiate Hindunationalist und Brahmane ließ nach seiner Amtsübernahme 2016 als erstes eine rituelle Waschung seines Amtsbüros vornehmen. Der Grund: Zuvor hatte ein Nichtbrahmane dort die Geschäfte geführt.