Ankara/Berlin. Vor einem Jahr wurde der blutige Staatsstreich in der Türkei niedergeschlagen. Präsident Erdogan ist jetzt so mächtig wie nie.

Fahnen auf den Straßen der Hauptstadt Ankara, an den Hauswänden Bilder von den Kämpfen der Putschnacht, nächtliche Bürgerwachen auf öffentlichen Plätzen. Und im türkischen Parlament eine feierliche Gedenkveranstaltung: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lässt das Gedenken an die Niederschlagung des Putsches vor einem Jahr mit großem Aufwand feiern.

Für den frühen Sonntagmorgen war als Höhepunkt eine Ansprache Erdogans im Parlament angekündigt – um 2.32 Uhr, dem Zeitpunkt, als die Putschisten vor einem Jahr das Parlament bombardierten und schwere Schäden anrichteten.

Demonstration der Macht

Es ist eine Demonstration der Macht von Erdogan und seiner AKP – aber sie kann nicht verdecken, wie tief zerrissen die Türkei ist. Noch immer gilt der Ausnahmezustand, der Erdogan ein Regieren per Dekret erlaubt, eine Verlängerung ist bereits angekündigt. Der Präsident schaltet Kritiker systematisch aus, 50.000 Menschen sitzen im Gefängnis.

In einer Sondersitzung des Parlaments am Sonnabendmittag erklärte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu an die Adresse der Regierung: „Die Justiz wurde zerstört.“ Statt einer schnellen Normalisierung habe sie einen „bleibenden Ausnahmezustand erschaffen“. Der Oppositionspolitiker Ali Atalan von der prokurdischen HDP wurde im Vorfeld noch deutlicher: „Es herrscht ein System der Angst“, sagt er. Die AKP-Regierung habe das Land gespalten und das Klima vergiftet.

Panzer in der Hauptstadt

Dabei hatte auch die Opposition in der Putschnacht an der Seite Erdogans gestanden. Am Abend des 15. Juli 2016 hatte eine Gruppe Militärs versucht, die Macht an sich zu reißen. Gegen 21.45 Uhr fallen an jenem Sommerabend in Ankara die ersten Schüsse. Bald fahren in der Hauptstadt und in Istanbul Panzer auf, Soldaten besetzen Straßen und Brücken, bombardieren das Parlament und den Präsidentenpalast. Schnell verkünden die Putschisten übers Fernsehen die Machtübernahme.

Doch ihr Rückhalt ist viel kleiner als vermutet. Präsident Erdogan bringt sich an seinem Urlaubsort an der Ägäisküste in Sicherheit, ruft die Bürger per nächtlichem Smartphone-Interview zum Widerstand auf. Tausende Türken folgen ihm und stellen sich den Militärs in den Weg. Noch in der Nacht hat die Regierung die Lage unter Kontrolle, der Umsturz wird niedergeschlagen. 250 Menschen kommen nach offiziellen Angaben bei dem Putschversuch ums Leben.

Wusste Erdogan frühzeitig von den Putschplänen?

Alle Macht dem Präsidenten: Recep Tayyip Erdogan (M.) bei der Sondersitzung des Parlaments in Ankara.
Alle Macht dem Präsidenten: Recep Tayyip Erdogan (M.) bei der Sondersitzung des Parlaments in Ankara. © REUTERS | UMIT BEKTAS

Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass Erdogan frühzeitig von den Umsturzplänen wusste – mindestens sieben Stunden zuvor, womöglich auch deutlich früher. Er hätte demnach den Staatsstreich laufen lassen, um nach erfolgreicher Niederschlagung per Ausnahmezustand seine „neue Türkei“ zu schaffen. Oppositionsführer Kilicdaroglu spricht mit Blick auf die Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses von einem „kontrollierten Putsch“.

Tatsächlich nannte Erdogan schon am Morgen danach den Putschversuch einen „Segen Gottes“. Er nutzte den misslungenen Staatsstreich kühl, um seine Macht zu festigen, Kritiker einzuschüchtern oder einzusperren. Erdogan und auch der Untersuchungsausschuss des Parlaments machen den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich. Gülen bestreitet seine Beteiligung.

140.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen

Die Säuberungsaktionen gingen weit über die Gülen-Anhänger hinaus: Mehr als 140.000 Richter, Polizisten, Lehrer und andere Staatsbedienstete wurden suspendiert oder entlassen. Unter den 50.000 Inhaftierten sind nicht nur Militärangehörige, die am Putsch beteiligt waren – wegen „Terrorismus“ oder „Unterstützung von Terrorismus“ sind auch führende Oppositionspolitiker, Regierungskritiker und 165 Journalisten inhaftiert.

Bei der jüngsten Säuberungswelle wurden in den vergangenen Tagen weitere 7300 Soldaten, Polizisten und Ministeriumsmitarbeiter entlassen. Wie tief das Land gespalten ist, zeigt das Ergebnis des Verfassungsreferendums im April: Erdogans Vorhaben, in der Türkei ein Präsidialsystem zu installieren, wurde nur mit knapper Mehrheit unterstützt.

Erdogan weist selbstbewusst Kritik zurück

Der Präsident lässt sich zum Jahrestag aber als „Held“ feiern, der in der Putschnacht todesmutig zum Volk gesprochen habe, um die Demokratie zu retten – während Europa und die USA ihn alleingelassen hätten. Entsprechend selbstbewusst weist Erdogan jede Kritik an Menschenrechtsverletzungen zurück.

Die Türkei entspreche nicht nur den Standards der EU, sondern sei ihnen noch voraus. Man habe auf den Putschversuch so verhältnismäßig reagiert, dass man der Türkei „den Friedensnobelpreis geben müsste“, sagt der Präsident zum Jahrestag.

Streit um Besuchsverbot für Abgeordnete in Konya

Zugleich empört sich Erdogan über den Zustand der EU – beim G20-Gipfel in Hamburg sei die „Blamage“ zu besichtigen gewesen. Der G20-Gipfel hat offenbar auch zur weiteren Verschlechterung der deutsch-türkischen Beziehungen beigetragen. Die Bundesregierung hatte einen Auftritt Erdogans vor Anhängern am Rande des Gipfeltreffens verboten. Offenbar als Retourkutsche untersagte die Türkei nun die für Montag geplante Visite von Bundestagsabgeordneten auf dem Nato-Stützpunkte Konya.

Dort sind etwa 15 deutsche Soldaten stationiert, die sich am Einsatz von Awacs-Flugzeugen der Nato im Anti-Terror-Kampf gegen den IS beteiligen. Bislang hatte die Türkei zwar Parlamentarierbesuche auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik untersagt, eine Ausweitung auf den wichtigen Nato-Flugplatz Konya aber vermieden.

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    Aus Incirlik werden die 260 Bundeswehrsoldaten mit ihren Tornado-Flugzeugen derzeit abgezogen und nach Jordanien verlegt. Auch ein Abzug aus Konya steht nun zur Diskussion. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagt: „Ohne Besuchsrecht können die deutschen Soldaten nicht in Konya bleiben.“ Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Hardt, weist Forderungen nach einem Abzug dagegen als „gefährlich“ zurück. Es wäre ein fatales Signal, wenn Erdogans Verhalten jetzt auch noch die Nato schwächen oder spalten würde, warnt Hardt.