Berlin. Die Polizeistatistik verzeichnet mehr Delikte gegen Kinder und Jugendliche. Die meisten der jungen Opfer kennen ihre Peiniger gut.

Besonders gefährlich wird es für Kinder, wenn ihre Eltern Streit haben. Wenn die Scheidung läuft, wenn der Krieg ums Sorgerecht eskaliert, wenn Mutter oder Vater damit drohen, sich und die Kinder umzubringen. „Das sind die Zeiten, in denen die Kinder besonders gefährdet sind“, erklärte Rainer Becker von der Deutschen Kinderhilfe am Donnerstag in Berlin. Jedes vierte Kind, das in Deutschland durch Gewalt zu Tode kommt, sterbe im Zuge der Trennung seiner Eltern. Im letzten Jahr wurden insgesamt 133 Kinder unter 14 Jahren gewaltsam getötet.

Die Zahl der kindlichen Gewaltopfer bewegt sich seit Jahren auf hohem Niveau und stieg zuletzt wieder an: 2016 gab es neben den vollendeten Todesfällen weitere 78 versuchte Tötungsdelikte, mehr als 4200 Anzeigen wegen schwerer Misshandlung und rund 14.300 Anzeigen wegen sexueller Gewalt. Wie viele Kinder tatsächlich gequält, erniedrigt und missbraucht wurden, weiß niemand.

Jugendämtern und Ermittlern fehlt oft das Personal

Die Polizeiliche Kriminalstatistik zählt nur die Anzeigen. Doch gerade bei häuslicher Gewalt durch Eltern und Familienmitglieder bleiben Kinder mit ihrem Leid oft allein. Zwar sind Kinderärzte, Lehrer und Kita-Mitarbeiter heute besser geschult, die Spuren der Gewalt zu erkennen – doch längst nicht jedes Kind, das Hilfe braucht, bekommt sie auch. Ein betroffenes Kind, sagen Experten, müsse im Schnitt acht Erwachsene ansprechen, bevor es Unterstützung bekomme. Beispiel sexuelle Gewalt: Dunkelfeldstudien berichten, dass 15 bis 30 Prozent aller Mädchen und fünf bis 15 Prozent der Jungen Opfer von sexuellem Missbrauch werden. Doch nur ein Bruchteil der Täter muss eine Anzeige fürchten.

Das gilt auch für Täter, die sich ihren Opfern über das Internet nähern. Sie haben es leichter denn je: Mit Sorge beobachten Experten, wie bedenkenlos Kinder und Jugendliche im ungeschützten Raum des Netzes unterwegs sind, wie naiv sie sich potentiellen Tätern präsentieren. Besonders die Mädchen: Sie machen einen Schmollmund, knoten das Shirt knapp unter der Brust und wippen aufreizend mit den Hüften.

Elfjährige Mädchen filmen und fotografieren sich in Lolita-Posen und posten die Bilder im Netz, Grundschulkinder teilen sorglos Minivideos von frühreifen Mitschülerinnen. Für die Generation Smartphone ist Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken Alltag. Viele ahnen gar nicht, wie klein der Schritt vom kindlichen Spaß zum Kindesmissbrauch ist. „Das Smartphone ist das ultimative Mittel für Missbrauchstäter“, warnt Julia von Weiler, Expertin für sexuellen Missbrauch im Internet. Wer will, findet spielend leicht Zugang zu minderjährigen Opfern.

87.000 Mitglieder tauschten Kinderpornographie aus

Sexuelle Gewalt ist durch die Digitalisierung zu einem Problem geworden, das mittlerweile jedes vorstellbare Maß überschreitet: Weltweit sollen Fachleuten zufolge aktuell mehr als neun Millionen Internetseiten mit Missbrauchsdarstellungen online zugänglich sein. Erst vergangene Woche gelang den Ermittlern der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) in Frankfurt am Main ein außergewöhnlicher Erfolg: Die Internet-Plattform „Elysium“, über die mehr als 87.000 Mitglieder Kinderpornographie austauschen konnten, wurde abgeschaltet, etliche Täter festgenommen. Die Plattform diente auch zur Verabredung zum sexuellen Missbrauch von Kindern, zu den Tätern gehörte auch ein Vater, der seine eigenen Kinder anderen Männern zur Vergewaltigung anbot.

Kein Einzelfall. Die Ermittler bekämen durch internationale Zusammenarbeit jeden Tag Hinweise für bis zu 200 Verfahren. „Wir werden geradezu überflutet“, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt Andreas May: „Die Datenmengen, die wir auszuwerten haben, sind der schiere Wahnsinn.“ Doch wie so oft mangelt es auch hier an der nötigen Personalstärke.

Bundesrat hat das Vorhaben von der Liste gestrichen

Das gilt auch für die knapp 600 deutschen Jugendämter und ihre Partner in freier Trägerschaft, wo diejenigen sitzen, die gefährdete Kinder im Blick haben sollten. Die Lage in vielen Kommunen ist jedoch alarmierend: Experten wie Kathinka Beckmann von der Universität Koblenz beklagen, dass viele Sozialarbeiter durch die enormen Dokumentationspflichten „80 Prozent ihrer Zeit am Schreibtisch sitzen, statt sich um die Familien zu kümmern“. Die Finanzierung der Sozialarbeiter müsse von der kommunalen Haushaltslage abgekoppelt werden. Auch die Deutsche Kinderhilfe kritisiert, dass in einigen Jugendämtern Mitarbeiter für 20 Fälle zuständig seien, in anderen für 120.

Im Rahmen einer Reform des Jugendschutzes will die Bundesregierung immerhin die Zusammenarbeit von Jugendämtern, Justiz und Ermittlern verbessern. Auch Jugendämter und Ärzte sollen sich enger austauschen – etwa beim Verdacht auf Missbrauch. Daneben ist die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle vorgesehen, die Kindern und Jugendlichen Hilfe und Beratung bieten soll.

Ob das Gesetz jedoch umgesetzt werden kann, hängt nun an den Ländern: Der Bundesrat hatte das Vorhaben bei seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause von der Tagesordnung gestrichen. Bis zur Bundestagswahl gibt es jetzt nur noch eine Sitzung der Länderkammer – am 22. September, zwei Tage vor der Wahl.