Bangkok/Kabul. Noch hat sich niemand zu dem verheerenden Anschlag in Kabul bekannt. Die Einwohner sprechen bereits von der „Mutter aller Anschläge“.

Das Blut der vielen Wunden sickert langsam durch die dichte Staubschicht, die den Verletzen ein paar Schritte von der deutschen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul bedeckt. Auf den Ellbogen zieht sich der schwer verletzte Mann vorwärts. Er schleift seine unbrauchbaren Beine hinter sich her. Sollte der Mann überleben, wird er wohl nie wieder gehen können.

Aber jetzt – unter Schock – will erst an dem vier Meter tiefen Bombenkrater des Anschlags vorbei, weg von verbrannten Autoteilen und zerfetzten Leichen. Hilflos und halb taub mobilisiert der Mann seine letzten Kräfte. Endlich erbarmen sich ein paar Sanitäter, heben ihn auf und rasen mit dem Mann in der Ambulanz in eines der überfüllten Krankenhäuser.

Bergungsmannschaften suchen nach Opfern

Vom Büro der Mobiltelefongesellschaft Roshan bleiben nur Trümmer. Noch Stunden nach dem Attentat, das um 8.30 Ortszeit mitten im morgendlichen Berufsverkehr mindestens 90 Tote und mindestens 400 Verletzte forderte, suchen Bergungsmannschaften nach Opfern in den Trümmern. „Wir brauchen dringend Blut für alle Krankenhäuser“, appelliert das Innenministerium an die Öffentlichkeit.

Ein paar Hundert Meter entfernt hämmern verzweifelte Afghanen mit bloßen Händen gegen die Eisentore des von einer italienischen Hilfsorganisation betriebenen Emergency Hospital. Sie wollen wissen, ob in dem Chaos des Anschlags verloren gegangene Verwandte dort behandelt werden. Denn die Telefone funktionieren nicht mehr – niemand ist erreichbar. Afghanistans kriegsgeplagte Einwohner sind an viele schrecken gewohnt. Aber der Anschlag am Mittwochmorgen trifft einen Nerv. Einmal mehr müssen Kabuls Bewohner erfahren, dass sie sich nirgendwo sicher fühlen können.

Riesige Rauchwolke über der Stadt

Die Bombe, die am Mittwochmorgen eine riesige Rauchwolke in den himmelblauen Himmel über Kabul jagte, verwandelt die dreistöckige deutsche Botschaft binnen Sekunden in ein gräuliches Mahnmal der Gefahren am Hindukusch. Ein Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfirma wurde getötet, mehrere deutsche Mitarbeiter verletzt, als die Druckwelle der Explosion das aus den 50er Jahren stammende Gebäude durchschüttelte wie ein Kartenhaus.

Die Außenmauer aus Natursteinen, die seit Jahren auf der Innenseite regelmäßig verstärkt worden war, zerfiel teilweise in Staub. Die vor Jahren eingebauten Spezialplatten vor den Fenstern, mit denen Mitarbeiter just für den Fall eines Anschlags wie am Mittwoch geschützt werden sollten, baumeln wie nach einem schweren Erdbeben an den Resten ihrer Befestigungen.

Demolierte Außenfassade

Die Botschaft sieht plötzlich so baufällig aus wie die Argumente der deutschen Politiker, die Abschiebungen von Afghanen in den Krieg am Hindukusch befürworten. „Afghanistan ist sicher genug“ heißt es in Regierungskreisen Berlins immer wieder. Doch das Attentat zeigt, wie löchrig diese Behauptung ist. Zukünftig reicht ein Foto der demolierten Außenfassade der Vertretung als Beleg für die Gefahren, die in Kabul und dem Rest des Landes an nahezu jeder Ecke lauern.

Dabei ist mehr als fraglich, dass das schlimmste Attentat in der afghanischen Hauptstadt seit Juli des vergangenen Jahres spezifisch der Vertretung Berlins galt. „Es ist schwer zu sagen, was das genaue Ziel des Anschlags war“, erklärte ein Polizeisprecher, „es gibt so viele wichtige Gebäude in der Gegend.“

Sprengsatz in Lastwagen versteckt

„Sprengsatz explodierte vor dem Tor der deutschen Botschaft. Unsere Botschaft beschädigt“, heißt es rund eine Stunde nach dem Attentat aus der indischen Botschaft. Die französische Botschaft wurde lädiert. Bulgariens Botschaft in einem kleinen unscheinbaren Gebäude rund 200 Meter von der deutschen Vertretung entfernt musste nach dem Anschlag evakuiert werden. Japans Gebäude wurde ebenfalls beschädigt. Zwei Diplomaten erlitten leichte Verletzungen.

Bombenanschlag verwüstet Kabul

Bei einem der schwersten Anschläge in Afghanistan in den letzten Jahren sind mindestens 80 Menschen gestorben. Die Detonation ereignete sich in der Nähe der deutschen Botschaft in Kabul.
Bei einem der schwersten Anschläge in Afghanistan in den letzten Jahren sind mindestens 80 Menschen gestorben. Die Detonation ereignete sich in der Nähe der deutschen Botschaft in Kabul. © dpa | Rahmat Gul
Laut afghanischer Regierung sind bei dem Autobombenanschlag mehr als 350 Menschen verletzt worden.
Laut afghanischer Regierung sind bei dem Autobombenanschlag mehr als 350 Menschen verletzt worden. © Xinhuaddp images/Newscom | Rahmat Alizadah
Angestellte einer Firma verlassen nach dem Anschlag das Gebäude in der Nähe der deutschen Botschaft.
Angestellte einer Firma verlassen nach dem Anschlag das Gebäude in der Nähe der deutschen Botschaft. © dpa | Massoud Hossaini
Die deutsche Botschaft liegt rund 300 Meter vom Anschlagsort entfernt.
Die deutsche Botschaft liegt rund 300 Meter vom Anschlagsort entfernt. © Xinhuaddp images/Newscom | Rahmat Alizadah
Angehörige trauern um die Opfer. Nach Angaben von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel wurde auch ein afghanischer Wachmann der deutschen Botschaft getötet. Zudem seien Bedienstete der Vertretung verletzt worden.
Angehörige trauern um die Opfer. Nach Angaben von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel wurde auch ein afghanischer Wachmann der deutschen Botschaft getötet. Zudem seien Bedienstete der Vertretung verletzt worden. © REUTERS | OMAR SOBHANI
Sicherheitskräfte patrouillieren am Morgen nach dem Anschlag auf der Straße. Die Explosion hat sich an einer viel befahrenen Straße zwischen der deutschen Botschaft und einem Sicherheitsposten am Sanbak-Platz ereignet.
Sicherheitskräfte patrouillieren am Morgen nach dem Anschlag auf der Straße. Die Explosion hat sich an einer viel befahrenen Straße zwischen der deutschen Botschaft und einem Sicherheitsposten am Sanbak-Platz ereignet. © dpa | Rahmat Gul
Die Detonation zerstörte Gebäude auch in hunderten Meter Entferung. Dieser Mann wurde am Kopf verletzt.
Die Detonation zerstörte Gebäude auch in hunderten Meter Entferung. Dieser Mann wurde am Kopf verletzt. © dpa | Massoud Hossaini
Dutzende Reinigungskräfte räumten nach dem verheerenden Anschlag Schutt und Asche beiseite.
Dutzende Reinigungskräfte räumten nach dem verheerenden Anschlag Schutt und Asche beiseite. © dpa | Rahmat Gul
Die Wucht der Explosion habe mindestens 30 Fahrzeuge zerstört, hieß es seitens der Behörden.
Die Wucht der Explosion habe mindestens 30 Fahrzeuge zerstört, hieß es seitens der Behörden. © dpa | Rahmat Gul
Noch ist nicht klar, wer den Anschlag begangen hat. Zu den mehr als 350 Verletzten gehört auch diese Frau.
Noch ist nicht klar, wer den Anschlag begangen hat. Zu den mehr als 350 Verletzten gehört auch diese Frau. © dpa | Rahmat Gul
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Laut Kabuls Polizeichef General Hassan Shah Frogh war der gewaltige Sprengsatz in einem Lastwagen versteckt, in dem normalerweise Fäkalien aus Sickergruben abtransportiert wurden. Der Selbstmordattentäter am Steuer nutzte die stinkende Hülle und den dichten Berufsverkehr, der um diese Zeit jeden Tag die Hochsicherheitszone im Stadtviertel Wazi Akbar Khan in einen einzigen Verkehrsstau verwandelt. Angesichts der allmorgendlichen Blechlawine sind um diese Tageszeit die Straßenkontrollen relativ sporadisch, um das Verkehrschaos nicht zu verschlimmern.

Taliban bestreiten Verantwortung

Die Talibanmilizen, die fast nie die Verantwortung bei Anschlägen mit vielen zivilen Opfern übernehmen, bestritten am Mittwochmorgen jede Verantwortung für das grauenvolle Attentat. Insgesamt sind laut den USA 20 Terrorgruppen am Hindukusch aktiv. Kabul kontrolliert laut US-Angaben nur noch zwei Drittel des Landes. Nach jüngsten Angaben fallen in der Hauptstadt und der umliegenden Provinz mehr Zivilisten dem Krieg zum Opfer als überall sonst in Afghanistan.

Der Volksmund in Kabul war am Mittwoch schnell sicher, wer für den grausamen Anschlag verantwortlich ist. Als in Kabul noch die Sirenen der Polizeifahrzeuge und Ambulanzen heulten, sprachen viele Kabulis bereits von der „Mutter aller Anschläge“.

IS für mehrere Attentate verantwortlich

Erst Mitte April war auf Befehl von US-Präsident Donald Trump in der Provinz Nangahar nahe der Grenze zum benachbarten Pakistan die 9500 Kilogramm schwere, gewaltigste konventionelle Bombe (Mutter aller Bomben) Washingtons über einem Höhlenkomplex abgeworfen worden, in dem sich der afghanische Ableger der Terrorgruppe „Islamischer Staat“(IS) verschanzt hatte.

Daesh, so der arabische Name von IS, war seit Januar für mehrere spektakuläre Attentate in Kabul verantwortlich. Viele Bewohner der Hauptstadt sind seit Mittwoch überzeugt, dass die Gruppe am Mittwoch Vergeltung für Trumps Bombe übte. Denn bei dem Anschlag in der Rush Hour nahm der Attentäter bewusst zahlreiche zivile Opfer in Kauf – ein Merkmal vieler IS-Attentate. Außerdem schaffte der Selbstmordattentäter es bis in das Herz des Stadtteils von Kabuls, in dem sich Vertretungen aller Länder befinden, die direkt oder indirekt im Nahen Osten die Terrorgruppe bekämpfen.

Terrorexperten fürchten nach dem Anschlag, dass ihre düsteren Vorhersagen für Afghanistan Wahrheit geworden sind. Je mehr IS im Nahen Osten in die Defensive gedrängt wird, so die These, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass seine Kämpfer Richtung Hindukusch umziehen. Den rund 13.000 ausländischen Soldaten, die noch am Hindukusch stationiert sind, steht wohl tatsächlich ein „schwieriges Jahr“ bevor, wie US-Verteidigungsminister James Mattis schon vor Wochen vorhersagte.