Berlin. Obama spricht mit der Kanzlerin beim Kirchentag. Auch ein AfD-Politiker steht auf dem Podium. Ist das zu viel Politik für die Kirche?

Kirchentage sind seit jeher mehr als Stadiongottesdienste und Bibelexegese in Messehallen. Sie sind politische Ereignisse, ganz gleich, ob Protestanten oder Katholiken die Gastgeber sind. Kirchentage sind dazu da, über die großen gesellschaftlichen Themen zu sprechen, über Moral, über Gut und Böse, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. All das stets aus christlicher Perspektive.

Kirchentage können und sollen dabei helfen, aufs Neue zu klären, was Christsein eigentlich bedeutet. Und seit jeher setzen sich auch Spitzenpolitiker mit diesen Themen auf den Kirchentagen auseinander. Es soll ja vorkommen, dass politische Verantwortliche, Minister, Kanzler und Bundespräsidenten auch Christen sind – und als solche eine Meinung haben.

Kirchentag als Wahlkampfbühne?

Nun muss gerade die Evangelische Kirche in diesem Jahr mit dem Vorwurf leben, sie lasse ihren Kirchentag zu einer Politveranstaltung abstumpfen. Dass der frühere US-Präsident Barack Obama gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel vor großem Publikum über Demokratie und politisches Engagement spricht, dient den Kritikern als bestes Beispiel für ihre These, die Kirche biete der Kanzlerin mithilfe eines der bekanntesten Menschen der Welt eine grandiose Wahlkampfbühne.

Zwischen Obama und AfD: Ist der Kirchentag zu politisch?

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    Andere mokieren sich darüber, dass auch Vertreter der sogenannten Christen in der AfD auf einem Podium zu Wort kommen dürfen. Und dann ist da der umtriebige CDU-Politiker Jens Spahn, der pünktlich zum Kirchentag die beiden großen Konfessionen auffordert, sich mehr auf „ihre Kernthemen“ zu konzentrieren: Seelsorge, Glaubensvermittlung und das Karitative.

    Jens Spahn wirft Kirchen fehlenden Realitätsbezug vor

    Spahn ist eigentlich gelernter Gesundheitsexperte, der sich derzeit als parlamentarischer Staatssekretär bei Wolfgang Schäuble in Finanzthemen einarbeitet und nun glaubt, den Kirchen sagen zu müssen, was sie zu tun und zu lassen haben. Den Kirchen fehle oft der Realitätsbezug, dafür mischten sie sich zu oft in die Tagespolitik ein, meint er.

    In welcher Realität lebt ein Politiker, der so etwas sagt? Weiß er nicht, dass die Kirchen gerade über ihre karitative Arbeit dem Staat eine Menge Aufgaben abnehmen? Erst recht vor diesem Hintergrund: Warum in aller Welt sollten die Kirchen, die für 46 Millionen Mitglieder in diesem Land eine spirituelle Heimat sind, nach außen schweigend ihre Arbeit verrichten und nur innerhalb ihrer Gotteshäuser das Wort ergreifen?

    Politische Positionierung ohne parteipolitische Tendenz

    Nicht über die großen Sozialorganisationen Diakonie und Caritas, sondern über konkrete Seelsorge wissen die Kirchen nur zu genau, wo es in diesem Land Gerechtigkeitslücken gibt. Darüber öffentlich zu sprechen, ist nicht nur ihr gutes Recht, sondern geradezu ihre christliche Pflicht. Die handelnde Politik tut gut daran, zuzuhören – und es zu ertragen, wenn Bischöfe einen höheren Mindestlohn fordern, eine wachsende soziale Spaltung in Deutschland beklagen und sich gegen organisierte Sterbehilfe einsetzen.

    Die punktuelle Politisierung der Kirchen stellt noch lange keine parteipolitische Tendenz dar. Staat und Kirche sind getrennt, aber – auch durch Verträge – partnerschaftlich verbunden. Der Staat bleibt weltanschaulich neutral und nimmt zugleich die Kirchen in ihrer sozialen Aufgabenfülle in Anspruch.

    Kirchentag mischt sich politisch ein

    Dieses Konstrukt sieht mitnichten vor, dass der Glaube und seine ethischen Handlungsweisen reine Privatsache sind. Im Übrigen war es die Kanzlerin selbst, die zum Auftakt des Kirchentags klarstellte, dass für sie und die CDU die Religion in den öffentlichen Raum gehöre. Es sei besser, die Kirchen mischten sich ein, als dass sie sich immer zurückhielten. Genau das tut der Kirchentag.