Moskau. Neuerdings gehen vor allem junge Leute gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf die Straße. Eine neue Opposition wächst heran.

Nein, Revolution wäre zu grausam. „Dabei können Menschen sterben. Und hinterher leben die meisten Leute trotzdem schlechter als vorher.“ Nikita ist ein schmächtiger Junge mit blassem Kindergesicht.

„Eine Revolution wäre nur berechtigt, wenn in unserem Land wirklich Totalitarismus herrschte.“ Obwohl auf der Wolga noch Eisfelder schwimmen, trägt Nikita keine Mütze, sein dunkelblonder Schopf ist zur Hälfte gestutzt und zu einem Stummelzopf gescheitelt. Die Frisur eines Samurais.

Hälfte der Demonstranten unter 25 Jahren

Nikita, 15, geht in die 9. Klasse. Er ist einer der Schüler, die bei der Antikorruptionskundgebung am 26. März dabei waren. Damals gingen in ganz Russland etwa 60.000 Leute auf die Straße, in der Wolgastadt Tscheboksary rund 1000. Dmitri Semjenow, Koordinator der Oppositionsbewegung „Offenes Russland“ in der Wolgaregion, sagt, die Hälfte von ihnen sei unter 25 Jahren gewesen.

Eine neue, junge, für Putins Regiment ziemlich unverhoffte Opposition, keineswegs extremistisch, aber für das System sehr unbequem. Wenn nicht gefährlich. Seit dem 26. März sind die Russen wieder zu Tausenden auf der Straße, Fernfahrer protestieren gegen eine neue Maut, Moskauer gegen den Massenabriss ihrer Wohnhäuser, mehrere Oppositionsparteien machen in Moskau gegen „Willkür und Repression“ mobil.

Jugend macht sich frei von Staatspropaganda

Sie sind keine 20 Jahre alt, studieren oder gehen noch zur Schule, ihre Jeans sind meist aus China, die angelsächsischen Parolen auf ihren Sweatshirts aber unpolitisch: „Raw Denim“ oder „Power Mail“. Die Mädchen schminken sich wenig, einige tragen Zahnspangen. Aber alle besitzen ein Smartphone. Sie ignorieren das Fernsehen und seine von der Staatspropaganda sorgfältig gemixten Inhalte, tauchen im Dickicht des weltweiten Webs unter.

„Die Erwachsenen, die Leute im Kreml, haben keine Ahnung, wofür sich diese Kinder interessieren“, sagt Walja Dechtarenko, Journalistikstudentin in Moskau, Menschenrechtsaktivistin und selbst 19 Jahre alt.

Sympathien für Kremlkritiker Alexei Nawalny

Die Kinder haben den Film des Antikorruptionsbloggers Alexei Nawalny über die Landsitze und Motoryachten von Premierminister Dmitri Medwedew gesehen.

Putin-Kritiker Nawalny zu 15 Tagen Haft verurteilt

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    Viele haben auch Nawalnys Film über die Reichtümer des Generalstaatsanwaltes Juri Tschaika angeschaut. Und sie vergleichen das Millionen Euro teure Luxusleben der Topbeamten mit den knochenmageren Einkommen ihrer Familien.

    Jugend protestiert vor allem gegen Korruption

    Etwa Alexander, 16, Vollwaise aus Nowotscheboksarsk: Er lebt bei seinen Großeltern, sie kommen mit zwei Renten von weniger als 200 Euro aus. Nikitas allein erziehende Mutter, eine Psychologin, verdient auch nicht viel mehr, sagt er. „Der Film hat mir einen Stich versetzt.“

    Statistisch betrachtet steht Russlands Jugend eigentlich noch geschlossener hinter Putins Regiment als der Rest der Bevölkerung. Nach einer Umfrage des Levada-Zentrums vom Januar befürworten 91 Prozent der 18- bis 24-jährigen Russen die Politik Putins, (was 85 Prozent der Gesamtbevölkerung auch tun). Aber gleichzeitig meinen 50 Prozent der jungen Russen, die staatlichen Behörden seien im beträchtlichen Maß von Korruption befallen, 25 Prozent halten die Behörden sogar für völlig korrumpiert.

    Angst vor Endlos-Regierung Putins

    Walja aus Moskau sagt, in ihrer früheren Klasse seien zwei Schüler aktiv gegen und zwei aktiv für Putin gewesen. „Alle anderen waren apolitisch“. Laut Nikita sind von 32 Klassenkameraden zwei zur Demo gegangen, aus der Parallelklasse immerhin sechs. „Die anderen sind nicht im Thema.“ Er selbst findet übrigens, es gäbe schlechtere Präsidenten als Putin.

    „Diese Jugendlichen sind unter Putin zur Welt gekommen“, sagt der Politologe Michail Winogradow, „jetzt macht sich bei ihnen offenbar die Sorge breit, dass sie auch unter ihm sterben.“

    Schüler filmen Schimpftiraden ihrer Lehrer

    Die liberalen Moskauer Analytiker haben den Aufstand der Teenager schnell, aber sehr unterschiedlich erklärt. Einer sagt, Russland verspäte sich immer um ein halbes Jahrhundert, jetzt hole es die Revolte der westeuropäischen 68er-Bewegung nach. Andere erklären, die Jugend rebelliere, weil ihr Putins Kumpelkapitalismus alle sozialen Möglichkeiten des Aufstiegs versperre. Auf jeden Fall eint sie das Gefühl, dass etwas faul ist in der Russischen Föderation. Nikita und seine Altersgenossen zerbrechen sich den Kopf noch nicht wirklich über ihre Karrieren.

    Schulkinder filmen jetzt unterm Pult mit, wie Klassenlehrer sie wegen der Teilnahme an den Demos als Liberalfaschisten beschimpfen, die Videos stellen sie ins Netz. Sie verwandeln die patriotische und antiwestliche Unbeholfenheit ihrer offiziellen Pädagogen in virtuelle Lachnummern. Diese Teenager sind neugierig auf die Welt jenseits der Staatspropaganda, freunden sich über „Telegram Web“ auf Englisch mit jungen Westeuropäern an. Sie lesen Bücher: Irwin Shaws Roman „Rich Man. Poor Man“, Nietzsches „Zarathustra“ oder die „Psychologie der Massen“ von Gustave le Bon.

    Wie sich Wladimir Putin in Szene setzt

    Wie einst bei Robert Redford: Wladimir Putin als Pferdeflüsterer in einem Wildpferde-Reservat nahe Orenburg.
    Wie einst bei Robert Redford: Wladimir Putin als Pferdeflüsterer in einem Wildpferde-Reservat nahe Orenburg. © REUTERS | SPUTNIK
    Als die Tiere gefüttert wurden, legte Putin selbst Hand an.
    Als die Tiere gefüttert wurden, legte Putin selbst Hand an. © REUTERS | SPUTNIK
    Die Przewalski-Pferde sind eine seltene Rasse. Da musste der Präsident natürlich mal vorbeischauen.
    Die Przewalski-Pferde sind eine seltene Rasse. Da musste der Präsident natürlich mal vorbeischauen. © REUTERS | SPUTNIK
    Der Fotograf gab sich alle Mühe, den Präsidenten im Gegenlicht der untergehenden Sonne ins rechte Licht zu setzen.
    Der Fotograf gab sich alle Mühe, den Präsidenten im Gegenlicht der untergehenden Sonne ins rechte Licht zu setzen. © REUTERS | SPUTNIK
    Tarnanzug, braun gebrannt, energischer Blick – Wladimir Putin liebt es, als Macho-Typ rüberzukommen.
    Tarnanzug, braun gebrannt, energischer Blick – Wladimir Putin liebt es, als Macho-Typ rüberzukommen. © REUTERS | SPUTNIK
    Politisch hat es der Kremlchef zurzeit vor allem außenpolitisch schwer. Da soll die Fotoserie wohl so eine Art Charme-Offensive sein.
    Politisch hat es der Kremlchef zurzeit vor allem außenpolitisch schwer. Da soll die Fotoserie wohl so eine Art Charme-Offensive sein. © REUTERS | SPUTNIK
    Das PS-protzige Quad scheint für den Macho-Mann Putin wie geschaffen.
    Das PS-protzige Quad scheint für den Macho-Mann Putin wie geschaffen. © REUTERS | SPUTNIK
    Und nach dem Besuch luden die Wildhüter Wladimir Putin zum gemeinsamen Essen.
    Und nach dem Besuch luden die Wildhüter Wladimir Putin zum gemeinsamen Essen. © dpa | Alexei Druzhinin / Sputnik / Kre
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    Polizisten schüchtern Eltern mit Bußgeldern ein

    Im Diskussionsklub des Gymnasiums von Nikita veranstalten die Schüler meist Rollenspiele: „Zum Beispiel Regierung gegen Opposition.“ Dabei ist Opposition in Putins politischem System eigentlich nicht mehr vorgesehen. Im Gegensatz zu ihren sowjetischen Eltern ist eigenständiges Denken für viele russische Kinder inzwischen eine Selbstverständlichkeit.

    Nikita ist zusammen mit seinem Freund Ljoscha zur Demo am 26. März gegangen. Hinterher wurden beide von Polizisten abgeführt, ihre Eltern mussten sie von der Wache abholen. Ljoscha erzählt, dort habe man seinen Eltern mit Bußgeldern von umgerechnet 330 Euro Angst gemacht. Aus Rücksicht auf sie möchte er bei der nächsten Kundgebung zu Hause bleiben.

    Nikita aber geht auf jeden Fall wieder hin. „Wer soll es tun“, fragt er, „wenn nicht wir?“ Seine Einstellung macht Hoffnung: In Russland wachsen Führungspersönlichkeiten nach, die mit Putins Staatsmacht nichts mehr anfangen können.