Moskau. Die russische Regierung will 4500 alte Wohnhäuser abreißen, ein 50-Milliarden-Euro-Geschäft. Millionen Bürger sollen dafür umziehen.

Bürgermeister Sergej Sobjanin redet mit Engelszungen. „Für die Aufnahme in das Programm sind zwei Faktoren entscheidend: Erstens, der technische Zustand des Hauses. Zweitens, und das ist das Wichtigste, der Wille der Bürger.“ Man werde für die Umzugswilligen schlüsselfertige Wohnungen bauen, nicht der „Ökonom-, sondern der Komfort-Klasse“ - Sobjanin wechselt sogar in das Werbevokabular der russischen Immobilienbranche.

Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin.
Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. © imago/ITAR-TASS | Mikhail Metzel

Moskaus Stadtoberhaupt gibt in den vergangenen Tagen reihenweise Interviews, die nur ein Thema haben: Den geplanten Abriss von gut 4500 Wohnhäusern. Zum größten Teil „Chruschtschowkas“, so nennt der Volksmund die Fünf-Etagen-Bauten mit 60 bis 100 Wohnungen, die vom Ende der 50-er bis in die 80-er Jahre gebaut wurden, berüchtigt für 2,5 Meter niedrige Decken und winzige Küchen. „Eine Chruschtschowka zu renovieren, ist zwecklos“, sagt Nadeschda Kosarjewa, Professorin der Moskauer Hochschule für Urbanistik.

Liste der Abrisskandidaten

Man müsse die Wände aufbrechen, um die dort verlegten Stromleitungen und Rohre zu erneuern, mangels Heizungskellern auch die kompletten Fußböden des Erdgeschosses. „Es ist leichter, sie abzureißen und neu zu bauen.“ Unlängst veröffentlichte die Stadtverwaltung eine vorläufige Liste der Abrisskandidaten. Laut BBC sind auch Dutzende solider und einzelne historisch wertvolle Stein- und Ziegelhäuser aus der Stalin-Ära und Zarenzeit darauf geraten – während viele Bewohner baufälliger Chruschtschowkas klagen, sie seien nicht berücksichtigt worden.

Vom 15. Mai bis zum 15. Juli sollen nun die Bewohner der betroffenen Häuser über deren Schicksal abstimmen. Wenn in einem Haus zwei Drittel dafür sind, wird abgerissen. Allerdings hat die Staatsduma gerade erst beschlossen, die zweite Lesung des Gesetzes zu diesem Projekt zu verschieben, bis die Abstimmung vorbei ist. So herrscht Ungewissheit, worüber die Betroffenen überhaupt abstimmen. Immerhin geht es um Eigentumswohnungen. Fast alle Bewohner haben sie Anfang der Neunzigerjahre oder später gekauft.

Umsiedlung finanzieren

Und Wohneigentum gilt in Russland und erst recht im überteuerten Moskau als Heiligtum. Für zusätzliche Nervosität sorgen drei verschiedene Abstimmungsverfahren: Außer gesetzlich vorgesehenen Eigentümerversammlungen bietet die Stadtverwaltung auch eine Stimmabgabe in staatlichen Service-Zentren oder auf dem Internetportal „Aktive Bürger“ an. Kritiker beklagen, es gäbe keine Möglichkeit, die Ergebnisse dort zu kontrollieren.

Wladimir Putin mit Sergej Sobjanin.
Wladimir Putin mit Sergej Sobjanin. © REUTERS | SERGEI KARPUKHIN

Auch die Ausmaße des Vorhabens erregen viele Moskauer. Nach Schätzungen von Wirtschaftsexperten werden 25 Millionen Quadratmeter Wohnraum abgerissen, aber dreimal soviel gebaut, um die Umsiedlung zu finanzieren. Dafür werde man 70 Millionen Quadratmeter Wohnraum verkaufen, für umgerechnet etwa 50 bis 80 Milliarden Euro.

Gegen eigenes Wohl

Ein gigantisches Immobilienprojekt, mindestens doppelt so voluminös wie der Jahresetat der reichsten Stadt Russlands. Berechnungen des Architekturkritikers Grigori Rewsin zufolge müssten 1,6 Millionen Moskauer umziehen, dazu würden sich vier Millionen Neubürger im zusätzlichen Wohnraum einkaufen. „Als würde Sankt Petersburg nach Moskau umgesiedelt.“ Und das ins erweiterte Stadtzentrum, wo Kindergarten- und Parkplätze schon jetzt knapp sind.

Der Streit um den Generalabriss übertönt in Moskau inzwischen alle politischen Debatten. Befürworter werfen den Kritikern vor, sie wollten das Volk gegen sein eigenes Wohl aufhetzen. Aber viele Moskauer trauen Sobjanin nicht, der schon beim Abriss von Geschäftsbauten in den vergangenen Jahren alle Proteste ignoriert hatte. Die Gegner des Massenabrisses wollen am 12. Mai auf die Straße gehen.