Berlin. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Interview über die Wahlen in Deutschland und Frankreich – und die Entwicklungen in der Türkei.

Der Mai bringt weitere Testläufe für den neuen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten: Die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein am kommenden Sonntag und die NRW-Wahlen am 14. Mai werden zeigen, wie nachhaltig der Höhenflug ist, mit dem Martin Schulz im Amt gestartet ist.

Die SPD sackt in den Umfragen ab, liegt wieder klar hinter der Union. Ist der Schulz-Hype schon vorbei, Herr Schulz?

Martin Schulz: Wir liegen jetzt um die 30 Prozent. Als ich gestartet bin, lag die SPD bei 20 Prozent. Außerdem haben wir seit meiner Nominierung als Kanzlerkandidat im Januar über 16.000 neue Mitglieder gewonnen – 40 Prozent davon unter 35 Jahren. Diese Entwicklung ist einmalig in der deutschen Parteiengeschichte. Ich bin sehr zufrieden. Und wenn wir in Umfragen mal unter 30 Prozent liegen, macht das auch keinen nervös.

Erwarten die Sozialdemokraten von ihrem „Sankt Martin“ zu viel?

Schulz: Den Eindruck habe ich nicht. Die SPD ist hoch motiviert – gerade in den Ländern, in denen Wahlkämpfe laufen. Aber alle wissen: Vor uns liegt viel Arbeit. Ich werde immer nach dem Schulz-Hype gefragt. Aber ich habe den nicht erfunden, das ist ein Phänomen der Medien.

Martin Schulz im Gespräch mit Laurent Marchand und Sébastien Vannier von der französischen „Ouest-France“ sowie Zentralredaktions-Chef Jörg Quoos und Stellvertreter Jochen Gaugele (rechts).
Martin Schulz im Gespräch mit Laurent Marchand und Sébastien Vannier von der französischen „Ouest-France“ sowie Zentralredaktions-Chef Jörg Quoos und Stellvertreter Jochen Gaugele (rechts). © Amin Akhtar | Amin Akhtar

Fakt ist, dass der Vorsprung der Union wieder größer wird. War es ein Fehler, ausgerechnet Deutschland, Europas Primus, als ungerechtes Land darzustellen?

Schulz: Wer Politik macht, muss einen klaren Blick für das Leben der ganz normalen Menschen haben. Und es gibt Ungerechtigkeiten in diesem reichen Land. Es ist nicht gerecht, dass sich oft selbst Familien mit zwei Einkommen die Mieten in den Großstädten nicht mehr leisten können. Es ist nicht gerecht, dass viele im Alter nicht so gepflegt werden, dass sie ihren Lebensabend in Würde verbringen können. Und es ist nicht gerecht, dass Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als Männer. Diese Ungerechtigkeiten muss man ansprechen. CDU/CSU steigen in den Umfragen, weil die AfD sich selbst zerlegt. Und die Merkel-CDU macht einen Rechtsruck, um Wähler am rechten Rand an sich zu binden. Das macht Wähler in der Mitte für uns frei.

Rechtsruck – woran machen Sie das fest?

Schulz: In NRW soll jetzt Wolfgang Bosbach den CDU-Spitzenkandidaten Laschet bei der Innenpolitik beraten. Bosbach hat bei Themen wie Islamgesetz, Doppelpass, Burka-Verbot immer das Gegenteil von dem vertreten, was Herr Laschet bislang gesagt hat.

Angela Merkel sieht sich sonst eher dem Vorwurf ausgesetzt, die CDU zu weit nach links zu führen.

Schulz: Schauen Sie sich nur die Thesen von Innenminister de Maizière zur Leitkultur an. Wir haben für das Zusammenleben in der Bundesrepublik eine sehr gute Richtschnur. Das sind die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes. Daran müssen sich alle halten. Mit seinem neuen Vorstoß zur Leitkultur zielt de Maizière ganz klar auf Wähler am rechten Rand.

Ihre Vorschläge für mehr Gerechtigkeit scheinen dagegen aus der sozialdemokratischen Mottenkiste zu stammen: Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängern, Unternehmen mit höheren Sozialabgaben belasten ...

Schulz: Gerechtigkeit gehört für mich nicht in die Mottenkiste. Gerechtigkeit ist die zentrale Zukunftsfrage. Uns geht es nicht um Almosen, sondern darum, den Facharbeitermangel zu bekämpfen. Wer gut qualifiziert ist und mit Mitte 50 seinen Arbeitsplatz verliert, den können wir doch nicht aufgeben. Wir wollen ihm ein Angebot zur weiteren Qualifizierung machen. Das ist eine Investition in Deutschlands Zukunft. Und es ist eine Frage der Gerechtigkeit, zur 50:50-Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an der Krankenversicherung zurückzukehren – auch bei den Zusatzbeiträgen. Angesichts der Ertragslage unserer Unternehmen ist das durchaus verkraftbar.

Haben Sie eine Vorstellung, wie Deutschland wettbewerbsfähig bleiben kann?

Schulz: Unsere Wettbewerbsfähigkeit hat einen Namen: „Made in Germany“. Es geht um Qualität. Daher sind – neben der Qualifizierung von Facharbeitern – Investitionen in Forschung und Entwicklung so wichtig. Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, müssen stärker als bisher gefördert werden.

Von Steuersenkungen für Bürger und Unternehmen halten Sie nichts? Die USA wollen diesen Weg jetzt gehen …

Schulz: Die Vereinigten Staaten haben Rekordschulden – und einen Präsidenten, der diesen Schuldenstand noch weiter in die Höhe treiben will mit seinen Steuergeschenken an Unternehmen und Superreiche. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch ökonomisch falsch. Unser Konzept ist, Unternehmen zu fördern, auch steuerlich zu entlasten, wenn sie in die Zukunft investieren.

Martin Schulz besucht Start-Ups in Berlin

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    Viele, die SPD wählen wollen, lehnen die Linkspartei als Koalitionspartner ab. Warum zeigen Sie nicht klare Kante und schließen Rot-Rot aus?

    Schulz: Die SPD hat den Anspruch, die stärkste Partei in diesem Land zu werden. Ich will die nächste Bundesregierung führen. Und wer nach der Bundestagswahl mit mir koalieren will, ist herzlich eingeladen, auf mich zuzukommen.

    Ist die Linke denn regierungsfähig?

    Schulz: Ich will Kanzler werden. Wer mit mir nach der Wahl koalieren will, muss sich mein Programm angucken und das unterschreiben. Ich kann mir jetzt nicht auch noch den Kopf über andere Parteien zerbrechen.

    Der erste Schulz-Test, die Wahl im Saarland, ist misslungen. Jetzt folgen Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – und die SPD-Spitzenkandidaten Torsten Albig und Hannelore Kraft machen erstaunlich wenig aus ihrem Amtsbonus …

    Schulz: Sowohl Torsten Albig als auch Hannelore Kraft liegen weit vor ihren Mitbewerbern. Beide haben eine sehr gute Bilanz vorzuweisen. Ich bin in Schleswig-Holstein und NRW viel unterwegs und spüre dabei unglaublich viel Unterstützung für die SPD.

    Die Bilanz der SPD – gerade in NRW – ist dürftig.

    Schulz: Einspruch! NRW hat erstmals seit 43 Jahren einen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet. Unter CDU/FDP waren 2010 noch 138 Kommunen in NRW im Nothaushalt, jetzt sind es nur noch acht. NRW hat so wenig Arbeitslose wie seit 23 Jahren nicht mehr. NRW ist deutscher Meister beim sozialen Wohnungsbau: die höchsten Steigerungen und Rekordergebnisse beim Bau geförderter Wohnungen. All das haben die Menschen in meinem Heimatland erarbeitet – aber das ist auch ein Erfolg der Regierung von Hannelore Kraft.

    Am Sonntag blicken die Deutschen auch nach Frankreich. Was geschieht, wenn die Rechtsextremistin Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt wird?

    Schulz: Frankreich ist wie Deutschland ein G7-Staat. Frankreich ist mit Deutschland gemeinsam die stabile Basis der Eurozone und der Europäischen Union überhaupt. Frankreich ist ein nukleargerüstetes Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Ein solches Land in den Händen einer Ultranationalistin wie Marine Le Pen ist etwas, das ich mir nicht vorstellen möchte. Diese Frau ist bekannt für Rücksichtslosigkeit, Zynismus – und antideutsche Töne, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gehört habe. Bis heute hat sie sich nicht distanziert von dem Satz ihres Vaters, Auschwitz sei ein Detail der Geschichte. Das ist unerträglich.

    Sind Sie vor der Stichwahl nervös?

    Schulz: Ich mache mir schon Sorgen. Die Umfragewerte für Le Pen sind erschreckend hoch. Aber ich glaube, dass sie deutlich schlechter abschneiden wird als erwartet.

    Was erwarten Sie von dem unabhängigen Bewerber Emmanuel Macron?

    Schulz: Ich kenne ihn gut und glaube, dass Emmanuel Macron als französischer Präsident und ich als deutscher Kanzler in einer gemeinsamen Anstrengung die Europäische Union reformieren können. Was der EU fehlt, ist eine ambitionierte, mutige Reform. Die Staats- und Regierungschefs schleppen sich von Gipfel zu Gipfel. Macron hat den Willen zur Erneuerung, den andere vermissen lassen. Ich habe diesen Willen auch.

    Geht das konkreter?

    Schulz: Die EU muss sich vor allem auf jene zentralen Herausforderungen konzentrieren, die die Nationalstaaten alleine nicht mehr meistern können: Klimawandel, Terrorismus, Steuerflucht zum Beispiel. Für den Handel ist wichtig: Europa darf sich nicht abschotten – und muss solchen Tendenzen auch in anderen Regionen der Welt entgegentreten. Und: Wir brauchen einen kräftigen Investitionsschub in Europa, der Wachstum, Innovation und den europäischen Zusammenhalt stärkt.

    Martin Schulz will Kanzler werden

    Martin Schulz ist der Kanzlerkandidat der SPD für den Bundestagswahlkampf. Er steht für das Projekt Europa. Wofür steht der SPD-Chef noch? Dieses Foto zeigt den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten an einem seiner größten Tage – mit der Medaille des Friedensnobelpreises, die 2012 die Europäische Union als Institution erhielt.
    Martin Schulz ist der Kanzlerkandidat der SPD für den Bundestagswahlkampf. Er steht für das Projekt Europa. Wofür steht der SPD-Chef noch? Dieses Foto zeigt den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten an einem seiner größten Tage – mit der Medaille des Friedensnobelpreises, die 2012 die Europäische Union als Institution erhielt. © REUTERS | REUTERS / NTB SCANPIX
    Europa ist für den Mann aus Aachen, der nahe der Grenze zu den Niederlanden aufwuchs, ein Herzensanliegen.
    Europa ist für den Mann aus Aachen, der nahe der Grenze zu den Niederlanden aufwuchs, ein Herzensanliegen. © dpa | Stephanie Lecocq
    Zusammen mit dem EU-Kommissionpräsidenten Jean-Claude Juncker (re.) bildete Martin Schulz jahrelang das Führungsduo der EU.
    Zusammen mit dem EU-Kommissionpräsidenten Jean-Claude Juncker (re.) bildete Martin Schulz jahrelang das Führungsduo der EU. © dpa | Axel Heimken
    SPD-Mitglied Schulz ist nach Berlin gewechselt – und hat in seiner Partei große Hoffnung geweckt.
    SPD-Mitglied Schulz ist nach Berlin gewechselt – und hat in seiner Partei große Hoffnung geweckt. © REUTERS | REUTERS / FABRIZIO BENSCH
    Nachdem Sigmar Gabriel seinen Rücktritt erklärt hat, ging Schulz ins Rennen für die Bundestagswahl 2017.
    Nachdem Sigmar Gabriel seinen Rücktritt erklärt hat, ging Schulz ins Rennen für die Bundestagswahl 2017. © REUTERS | REUTERS / THOMAS PETER
    In der Flüchtlingspolitik engagierte sich Schulz besonders. Das Foto zeigt ihn im November 2015 in Athen beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft.
    In der Flüchtlingspolitik engagierte sich Schulz besonders. Das Foto zeigt ihn im November 2015 in Athen beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft. © imago | ZUMA Press
    2016 erhielt Martin Schulz bei der Publishers Night in Berlin die „Goldene Victoria“.
    2016 erhielt Martin Schulz bei der Publishers Night in Berlin die „Goldene Victoria“. © imago | Agentur Baganz
    Im September 2015 empfing Schulz als EU-Parlamentspräsident den Dalai Lama in Straßburg.
    Im September 2015 empfing Schulz als EU-Parlamentspräsident den Dalai Lama in Straßburg. © REUTERS | REUTERS / VINCENT KESSLER
    Papst Franziskus kam im November 2014 für eine Rede vor dem EU-Parlament nach Straßburg – natürlich begrüßt vom damaligen Hausherrn Martin Schulz.
    Papst Franziskus kam im November 2014 für eine Rede vor dem EU-Parlament nach Straßburg – natürlich begrüßt vom damaligen Hausherrn Martin Schulz. © REUTERS | REUTERS / POOL
    2013 überreichte Martin Schulz der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai den Sacharow-Preis des EU-Parlaments.
    2013 überreichte Martin Schulz der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai den Sacharow-Preis des EU-Parlaments. © REUTERS | REUTERS / VINCENT KESSLER
    Die Nummer eins will Martin Schulz demnächst in NRW sein – jedenfalls auf der Landesliste für die Bundestagswahl 2017.
    Die Nummer eins will Martin Schulz demnächst in NRW sein – jedenfalls auf der Landesliste für die Bundestagswahl 2017. © dpa | Michael Kappeler
    Der Brexit der Briten war ein harter Schlag für Schulz. Das Foto zeigt ihn im September 2016 bei einem Treffen mit der neuen britischen Premierministerin Theresa May in London.
    Der Brexit der Briten war ein harter Schlag für Schulz. Das Foto zeigt ihn im September 2016 bei einem Treffen mit der neuen britischen Premierministerin Theresa May in London. © REUTERS | REUTERS / STEFAN WERMUTH
    Die drei von der SPD: Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz.
    Die drei von der SPD: Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Martin Schulz. © REUTERS | REUTERS / FABRIZIO BENSCH
    Das „Projekt Europa“ begleitet Schulz nun von Berlin aus.
    Das „Projekt Europa“ begleitet Schulz nun von Berlin aus. © REUTERS | REUTERS / VINCENT KESSLER
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    Macron sagte in einem Interview mit dieser Zeitung, Deutschlands wirtschaftliche Stärke sei nicht mehr tragbar. Was entgegnen Sie?

    Schulz: Man kann einem erfolgreichen Land nicht verbieten, erfolgreich zu sein. Im Gegenteil: Deutschland muss noch erfolgreicher werden. Es kann nicht darum gehen, dass Deutschland weniger exportiert. Deutschland muss aber dazu beitragen, dass andere Länder in der Eurozone mehr investieren können – und dass mehr Investitionen in Deutschland getätigt werden. Unsere Wirtschaftskraft muss dazu genutzt werden, in die Infrastruktur – in Straßen, Schienen und in die digitalen Netze – zu investieren. Wir müssen mehr Geld ausgeben für Qualifizierung und Ausbildung, für Forschung und Entwicklung. Dabei gibt es viele Kooperationsmöglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich. Deshalb sage ich: Deutschlands Stärke muss besser genutzt werden, um andere, um Europa insgesamt zu stärken.

    Was kann Frankreich von Deutschland lernen – und umgekehrt?

    Schulz: Ich möchte hier keine Ratschläge erteilen. Ich warne aber davor, zu glauben, man könne deutsche Reformen auf Frankreich übertragen oder französische Reformen auf Deutschland.

    Wie lange bleibt die Türkei eigentlich noch Kandidat für einen EU-Beitritt? Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die rote Linie doch längst überschritten …

    Schulz: Ein Beitritt kommt unter den jetzigen Bedingungen sicher nicht in Betracht. Aber man muss den Menschen die Wahrheit sagen: Die Beitrittsverhandlungen können nur einstimmig gestoppt werden. Das weiß auch die CDU-Vorsitzende. Man muss daher ganz woanders ansetzen …

    Schulz - AfD ist Schande für Deutschland

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      ... nämlich wo?

      Schulz: Die türkische Regierung entfernt jeden Missliebigen aus dem öffentlichen Dienst, drangsaliert Oppositionsparteien und Medien – und denkt an ein Referendum über die Todesstrafe. Ich sage ganz klar: Eine solche Abstimmung darf unter den Türkischstämmigen in Deutschland nicht stattfinden. Darin bin ich mir mit Außenminister Gabriel einig. Wir können nicht in Deutschland über ein Instrument abstimmen lassen, das unserer Verfassung widerspricht. Erdogan hat die Türkei von Europa entfernt. Das ist bitter. Denn die Türkei braucht die EU dringend.

      Worauf wollen Sie hinaus?

      Schulz: Wir müssen deutlich machen, dass wir uns diese Doppelstrategie nicht länger bieten lassen: Auf der einen Seite treibt die türkische Regierung die innenpolitische Konfrontation voran, auf der anderen Seite bittet sie Europa um wirtschaftliche Zusammenarbeit. So kann es nicht weitergehen, das Thema muss jetzt auf den Tisch. Was in der Türkei läuft, ist in keiner Weise vereinbar mit den Prinzipien der europäischen Kooperation.