Berlin/Jerusalem. Judenfeindlichkeit ist in Deutschland nach wie vor ein Thema. Eine Studie zählt im vergangenen Jahr 644 antisemitische Straftaten.

Sigmar Gabriel war schon oft in Israel. Als Privatmann, SPD-Vorsitzender und Wirtschaftsminister. Doch der Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als deutscher Außenminister am nationalen Holocaust-Gedenktag in Israel ist sicher der schwierigste.

Gabriel bekennt sich zur deutschen Verantwortung für den Holocaust und die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. „Sie ist uns Heutigen Mahnung und Verpflichtung – einzutreten gegen Antisemitismus und für die Menschenwürde, für Toleranz und die Verständigung zwischen den Völkern“, sagt er nach der Kranzniederlegung für die sechs Millionen ermordeten Juden.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (r., SPD) trug sich in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem in das Gästebuch ein.
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (r., SPD) trug sich in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem in das Gästebuch ein. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Erinnern und Gedenken bleibt wichtig. Denn Antisemitismus, also Judenfeindlichkeit, ist in Deutschland nach wie vor ein Thema. Allein 2016 wurden 644 antisemitische Straftaten erfasst, die Dunkelziffer liegt voraussichtlich deutlich darüber. Das geht aus dem am Montag veröffentlichten Antisemitismus-Bericht des Deutschen Bundestages hervor. Experten haben zwei Jahre lang die Situation der Juden in Deutschland untersucht, viele Gespräche geführt und verschiedene Studien zusammengeführt und ausgewertet.

„Es geht um das Klima in der Gesellschaft“

Das Fazit: Zwar gehe der „klassische Antisemitismus“, der Juden zu viel Einfluss unterstelle, zurück. 2016 hätten sich nur noch rund fünf Prozent der Bevölkerung in Umfragen dazu bekannt. Allerdings verträten rund 40 Prozent der Deutschen einen israelbezogenen Antisemitismus, der die politischen Entscheidungen des Staates Israel per se als jüdisches Handeln kritisiere.

Für Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau von den Linken geht es denn bei der Bekämpfung auch nicht nur um Straftaten, sondern um das Klima in der Gesellschaft. „Antisemitismus ist immer noch und immer wieder ein Problem in unserem Land“, sagt sie. Und zwar, laut Bericht, sowohl von rechtsextremer Seite wie auch durch Zuwanderung aus muslimischen Ländern.

Anti-jüdischer Vorfall an Berliner Schule

Gerade erst beschäftigte der Fall eines jüdischen Schülers im Berliner Stadtteil Friedenau die Öffentlichkeit. Der 14-Jährige soll mehrfach Opfer von antisemitischen Beschimpfungen und körperlichen Attacken seitens türkisch- und arabischstämmiger Mitschüler geworden sein. Nach einem massiven Angriff von Mitschülern, meldeten die Eltern den Jungen von der Schule ab und warfen der Schulleitung vor, zu spät reagiert zu haben.

Der Direktor des Jüdischen Gymnasiums Berlin, Aaron Eckstaedt, sagte nach dem Vorfall, im Schulausschuss der Jüdischen Gemeinde habe man es derzeit mit einem deutlichen Antisemitismus von Schülern arabischer Herkunft zu tun. An Schule mit mehrheitlich arabischen und türkischen Kindern sage ein jüdisches Kind deshalb nicht mehr laut, dass es jüdisch ist.

Die Kommisions-Experten warnen dennoch davor, muslimischen Zuwanderern grundsätzlich eine antisemitische Haltung zu unterstellen. „In der Öffentlichkeit steht die Gruppe der Muslime als vermeintliche Hauptverursacher des Antisemitismus im Fokus. Mit der Flüchtlingswelle haben solche Zuschreibungen noch zugenommen“, sagt Historikerin Juliane Wetzel. Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen unter muslimisch sozialisierten Jugendlichen sei zwar höher als unter nichtmuslimischen. Insbesondere Migranten aus arabischen und nordafrikanischen Ländern neigten zum Antisemitismus.

Nach wie vor ist das größte Problem der Rechtsextremismus

Ältere Muslime und Nichtmuslime unterschieden sich hingegen aber kaum. Auch trage Schulbildung bei jungen Muslimen zu einer deutlichen Verringerung von antisemitischen Vorstellungen bei. Den Forschern ist daher auch eine Botschaft sehr wichtig: Körperliche Angriffe und antisemitische Straftaten gehen in Deutschland nach wie vor zu 90 Prozent auf das Konto rechter oder rechtsextremistischer Gruppen.

Beispiel dafür ist etwa der Antisemitismus in Fußballstadien. „Häufig wird das Wort „Jude“ zur Diffamierung des gegnerischen Vereins sowie seiner Fans benutzt, wenn er aus einer Stadt mit einer jüdischen Vereinstradition kommt, wie etwa im Falle Bayern Münchens“, heißt es in dem Bericht.

Probleme in der Bundesliga

Ein weiteres Motiv, das sich aus der antisemitischen Vorstellung von jüdischem Reichtum und jüdischer Macht speise, sei der Neid auf finanziell besser ausgestattete Vereine, wenn ein reicher Sponsor den Verein fördert, schreiben die Autoren. So schmetterten während eines Pokalspiels hunderte Fans des Zweitliga-Klubs Dynamo Dresden etwa ihrem Gegner entgegen: „Jude, Jude, Jude – Eintracht Frankfurt“, während sich zwei Jahre später die zweite Mannschaft des Vereins (Sportgemeinschaft Eintracht) von Anhängern des finanziell weniger gut ausgestatteten Rivalen Kickers Offenbach „Zyklon B für die SGE“ und „Judenschweine“-Rufe anhören musste.

Mit dem Gas Zyklon B wurden Juden in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Die Schlussfolgerung der Kommission: die Berufung eines Antisemitismusbeauftragten, eine bundesweite Datenbank für antisemitische Straftaten, deren Ausweisung im Verfassungsschutzbericht sowie eine ständige Bund-Länder-Kommission. Oder einfach: Eine professionellere Bekämpfung des Alltags-Phänomens.