Caracas. In Venezuela wächst die Angst vor einem Bürgerkrieg: Im Staat mit den höchsten Ölreserven werden Benzin, Brot und Medikamente knapp.

Tränengas, Schüsse und tote Demonstranten: Es sind dramatische Bilder, die aus Venezuela um die Welt gehen. Hunderttausende Menschen protestieren gegen das sozialistische Regierungssystem, gegen die schwere Wirtschaftskrise und die weltweit höchste Inflation in ihrem Land.

Venezuela besitzt zwar die größten Ölreserven der Welt, doch für die Bevölkerung werden die Lebensmittel knapp. Ein eigentlich sehr reiches Land verarmt und zerfällt immer mehr – wie konnte es nur so weit kommen?

Nationalgarde nahm „volksfeindliche“ Bäcker fest

Das Mehl war knapp geworden – da räumten Plünderer eine Bäckerei in Caracas aus.
Das Mehl war knapp geworden – da räumten Plünderer eine Bäckerei in Caracas aus. © REUTERS | CHRISTIAN VERON

In diesen Tagen sorgte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro unfreiwillig für Erheiterung. In einer öffentlichen Veranstaltung griff er die venezolanischen Bäcker an. Er sprach vom „Brot-Krieg“, den die Backindustrie gegen die Bevölkerung führe. Sie nutze das knappe Mehl, um Kuchen statt Brot zu backen. Was folgte, war die Logik des Systems: Polizei und Nationalgarde rückten aus, nahmen angeblich volksfeindliche Bäcker fest und besetzten Großbäckereien, um die Produktion in staatliche Hände zu überführen.

Wenn etwas im Land des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nicht mehr funktioniert, sind oft die anderen schuld: Die USA, die Bourgeoisie, die Privatindustrie. Alle hätten sie eine „guerra económica“, einen Wirtschaftskrieg angezettelt, lautet die offizielle Erklärung. Die feindlichen Mächte wollten verhindern, dass in Venezuela das sozialistische Paradies auf Erden entstehe, wie es der verstorbene Präsident Hugo Chávez angestrebt habe.

Kaum noch Sprit im Land der größten Ölreserven

Ähnlich Absurdes passierte in Venezuela vor Kurzem mit dem Benzin, als im Land mit den höchsten nachgewiesenen Ölreserven der Welt der Sprit knapp wurde. Venezuelas Staatskonzern PDVSA ist derart abgewirtschaftet, dass er nicht genügend Raffineriekapazität hat, um aus Öl Benzin zu machen. Also wird das Öl exportiert und teuer als Benzin wieder eingekauft.

Weil das südamerikanische Land mit gerade noch 10,5 Milliarden Dollar Devisenreserven aber kaum Geld für Importe hat, wurden die Benzineinkäufe gekürzt. Von 290 Tankstellen in der Hauptstadt Caracas hatten Ende März nur noch 90 Treibstoff in den Zapfsäulen. PDVSA-Vizepräsident Ysmel Serrano behauptete jedoch: „Es gibt Verzögerungen bei den Schiffstransporten mit Treibstoff.“

Für Venezuela ist der niedrige Ölpreis fatal

 Venezuelas Präsident Nicolás Maduro versucht, seine sozialistische „Revolution“ zu retten.
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro versucht, seine sozialistische „Revolution“ zu retten. © REUTERS | HANDOUT

Lügen, Lavieren und Lamentieren – so ließe sich die Wirtschaftspolitik nach vier Jahren Maduro-Regierung umschreiben. Seit der Vertraute von Chávez im März 2013 das Ruder in Venezuela übernommen hat, geht die Ökonomie dramatisch auf Talfahrt. Es sind vor allem die Folgen einer verfehlten Wirtschaftspolitik mit Devisen- und Preiskontrollen, Deindustrialisierung und dem konsequenten Vergraulen der Privatindustrie, die das Land Kurs auf Kollaps haben nehmen lassen.

Aber Maduro hat auch Pech gehabt. Seit er an der Macht ist, sind die Ölpreise in den Keller gegangen. Nahm Venezuela unter Chávez noch rund 100 Dollar pro Fass ein, sind es derzeit gerade noch 41 Dollar. Für eine Volkswirtschaft, die vom Toastbrot bis zum Toilettenpapier alles importieren muss, ist ein niedriger Ölpreis fatal. Jedenfalls dann, wenn 95 Prozent der Exporte Rohöl sind. Ein Dollar mehr oder weniger Weltmarktpreis bedeutet für Venezuela aufs Jahr gerechnet 750 Millionen Dollar mehr oder weniger in der Kasse. Da das Land immer weniger Öl fördert, hat der Staat kaum Geld für Importe.

Tag und Nacht stehen Menschen vor Supermärkten Schlange

So stehen die Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit vor Supermärkten Schlange. Rund vier Stunden täglich bringen die Venezolaner damit zu, auf Maismehl, Klopapier, Fleisch, Butter, Zahnpasta, Deodorant oder Windeln zu warten. Man weiß nie, ob die Lastwagen mit der ersehnten Ware kommen, was sie bringen – immer öfter bringen sie gar nichts. Venezuela ist im Frühjahr 2017 ein Land, in dem nur der Mangel im Überfluss vorhanden ist.

Zudem pulverisiert eine der höchsten Preissteigerungsraten der Welt die Ersparnisse und Löhne der Menschen. Und so hat ein großer Teil der Bevölkerung in einem der rohstoffreichsten Länder der Welt inzwischen Hunger: 74 Prozent der Venezolaner haben im vergangenen Jahr knapp neun Kilo an Gewicht verloren. Kinder gehen nicht in die Schule, weil sie zu Hause kein Frühstück bekommen.

Krankenhäuser schließen ihre OPs, weil Ersatzteile für wichtige Apparate fehlen. Sterbenskranke Menschen bekommen keine Medikamente mehr. Und Unternehmen aller Branchen stellen ihre Produktion ein, weil der Staat ihnen keine Devisen zuteilt und sie so keine Inhaltsstoffe oder Ersatzteile importieren können. So ist der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ längst am Ende. Die Inflation könnte dieses Jahr die sagenhafte Quote von 1600 Prozent erreichen.

Zehntausende Menschen flüchten

Zehntausende Menschen sind schon aus Venezuela geflüchtet, Hunderttausende gehen auf die Straße.
Zehntausende Menschen sind schon aus Venezuela geflüchtet, Hunderttausende gehen auf die Straße. © REUTERS | CHRISTIAN VERON

Die Wirtschaft Venezuelas wird am Ende dieses Jahres um 23 Prozent kleiner sein als zu dem Zeitpunkt vor vier Jahren, als Maduro die Macht übernahm. Da wundert es nicht, dass dem sozialistischen Land nun auch noch der finanzielle Kollaps droht. Die Regierung in Caracas muss dieses Jahr knapp zehn Milliarden Dollar an ihre Gläubiger erstatten. Insgesamt haben der Staat und der Staatskonzern PDVSA Bonds im Wert von 110 Milliarden Dollar aufgelegt. Zusammen mit den Zinszahlungen summieren sich die Gesamtforderungen auf bis zu 170 Milliarden Dollar. Geld, das Venezuela nicht hat. Die Staatspleite könnte nur noch ein paar Tage oder Wochen entfernt sein. Dann droht der größte Zahlungsausfall in Lateinamerika seit dem Staatsbankrott Argentiniens vor gut 15 Jahren.

Seit Ausbruch der Proteste Anfang April starben neun Menschen, immer wieder liegen Tränengaswolken über Caracas. Zehntausende Menschen haben das fast bankrotte Land schon verlassen, sie flüchteten vor allem ins benachbarte Brasilien. Weiter gehen Hunderttausende Demonstranten auf die Straße. Die Regierung hat ihr reiches Land ruiniert. Das Ende des Regimes Maduro ist nur noch eine Frage der Zeit.